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Liebe. Trilogie meiner Familie 1 / Probennotiz 1, 26. Mai 2015

12. Jun. 2015

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Liebe - Trilogie meiner Familie 1

- Die Wissenschaft hat uns das Glück versprochen.

- Die Wissenschaft ist nicht die Offenbarung.

- Alles hängt vom Zufall ab.

- Sei ruhig jetzt. Maman ist aufgewacht.

Es ist Probenwoche drei und die erste Szene des Stücks, und Tante Dide schweigt. Winzig klein und schon fast von dieser Welt verschwunden sitzt sie in ihrem Rollstuhl festgeschnallt, und ihre Familie ist zum Besuch aufgekreuzt; familiengemäß mit einer Menge Stress, Schamlosigkeit und außerdem in existenziellem Hochdruck, denn keiner weiß genau, wie lang diese Tante Dide, mit ihren zerrütteten Nerven und 104 Jahren, noch leben wird.

Bei ihr, der Ältesten der ganzen Rougon-Macquart-Sippe, beginnen alle roten Fäden, die Zola durch seinen Romanzyklus über die Vererbung gezogen hat, und die sein Alter Ego, die Figur Pascal, besessen und akribisch recherchiert, erforscht, archiviert und dann in dieser Kiste verstaut hat, die ganz oben, höher geht es nicht, auf dem Gipfel des Bühnenbilds thront wie Tante Dide in ihrem Rollstuhl, und ihr Inneres ist genauso unerreichbar wie das Innere von Tante Dide. Die Kiste schweigt, und Tante Dide schweigt, so beginnt das Stück, und Schweigen ist Nichts, und Schweigen ist Alles, und Schweigen ist Macht, und ich stelle mir vor, ich bin diese Tante Dide, und sehe mir diese Leute an, meine Familie, diesen Haufen hysterischer von Existenz- und Glaubenskrisen gezeichneter Menschen, durch deren Mitte ein wie mit dem Skalpell gezogener Strich verläuft, der saubere Schnitt zwischen oben und unten, mit dem Skalpell des Schicksals gezogen, und die zentrale Frage aller ist, auch wenn sie das nicht so deutlich sagen, wer eigentlich das Skalpell in der Hand hält.

Ich stelle mir also vor, ich bin diese Tante Dide, die 104jährige, deren Wissen die anderen so sehr begehren, die wie ein Halm im Wind ist, winzig, kaum sichtbar, mit dünner durchscheinender Haut, und ich sehe meinen Familienmitgliedern dabei zu, wie sie hier ihren großen Zauber veranstalten, sich mit mir messen, in mir spiegeln, die Lebenslinien abgleichen, darüber heulen, wie Gervaise, die in meinen Verlusten die eigenen Verluste sieht, oder Martine, die sich an die Religion hängt wie ein Junkie an die Nadel, oder Felicité, die mit der obsessiven Angst vor dem Absturz alles versucht, um an die Kiste und die Aufzeichnungen zu kommen, oder Clotilde, die abgebrühter ist, als sie selbst vermutet, und dann der Arzt Pascal, der diese Gier hat sich und alle Menschen zu heilen. Und sehe ihnen dabei zu, wie sie an der riesigen Bodenwelle, die die Bühnenbildnerin den Figuren gebaut hat, entlangsurfen oder sich festkrallen, ganz winzig sind sie dabei, und hängen da, als wäre der Ozean eingefroren. Und die Mitglieder meiner Familie, all diese vom Skalpell des Schicksals Verwundeten spucken mir ihre Fragen ins Gesicht, wer bestimmt das Leben, warum ist Coupeau vom Dach gefallen, wo werden die Entscheidungen getroffen und von wem, warum war Pascals Spritze verunreinigt, bringt ein Glas Wein einen um, kann man, wenn man den falschen Weg eingeschlagen hat, wieder umkehren; so rotzen sie mir ihre Fragen ins Gesicht, diese ganzen Leute, als hätte ich ihnen irgendwas versprochen und als wüsste ich etwas davon. Ich stelle mir also vor, ich bin diese Tante Dide, die schon fast von dieser Welt Verschwundene, zu deren Welt hinter ihren von Demenz verschleierten Augen keiner Zutritt hat, deren Adern wie Landkarten auf der Haut liegen, und die irritiert ist, oder amüsiert, über diese ganzen offenen Fragen, mit denen sich diese Figuren ans Leben krallen, das sie, wäre sie nicht an den Rollstuhl festgeschnallt, vielleicht schon längst verlassen hätte.
 

-  Was sagt die Wissenschaft über den Ort, wo wir unsere Zuflucht nehmen sollen?


Es sind die ersten drei Wochen von drei Jahren im Zola-Universum, und wir stochern noch alle zusammen im Nebel, die Zola-Figuren und das Produktionsteam, und ich glaube, es geht dabei um die Gemeinsamkeit jenseits von Zeit, und wenn es um Erbschaft geht, geht es auch immer um Freiheit, und die Kiste ist noch zu, und Tante Dide schweigt.

Von Anne Habermehl