Spielzeit 26.08. - 09.10.

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Von Willy Decker

Kunst entsteht immer aus einem leeren Raum. Eine Bühne muss leer sein, damit Theater sich ereignen kann. Jedes Bild beginnt mit einer leeren Leinwand, jeder Plan mit einem weißen Blatt Papier. Musik beginnt mit und aus der Stille, der akustischen Leere, die dem Klang die Weite des Raums zur Verfügung stellt, wie das ­Weiße des leeren Blattes sich dem Pinsel des Malers hingibt.

Unser Bewusstsein gleicht aber eher einer von alten Kulissen verstopften Bühne, unser Geist einem vollgekritzelten Fetzen ­Papier, unser Auge einer mit tausend Bildern überpinselten Leinwand, unser Kopf einer von Milliarden von durcheinander-geschrienen Worten und Begriffen vollgedröhnten Bahnhofshalle.

»Nur wo Leere ist, kann etwas Neues geschehen«, sagt der indische Weise Krishnamurti. Die Leere des Raums, bevor sich etwas in ihm ereignet, die Stille vor der Musik, das Schweigen vor dem gesprochenen Wort, die Weiße des Blattes oder der Wand, bevor das Bild entsteht: Das ist der Urgrund, aus dem der neue Gedanke, die Idee, die künstlerische Inspiration entspringt, der Raum, in dem sich Kreativität bedingungslos und spontan entfaltet.

Der Buddhismus kreist um diese Leere als einen seiner ­zentralen Begriffe, Shunyata, das Nichts, das torlose Tor, anfanglos, endlos. In der Meditation, der zentralen Praxis des Buddhismus, wird das Bewusstsein von seinem Inhalt entleert, um Raum zu schaffen für eine offene, eine innere Weite und Leere, in der Erkenntnis möglich wird, Wahrheit und innere Transformation.

Obwohl man eigentlich nur die Augen schließen muss, um diesen tiefinneren, von grenzenloser Energie zitternden Raum der Leere zu betreten, ist der Weg dorthin für uns abendländische Menschen oft sehr weit, manchmal unmöglich. Wir müssen ganze Gebirge von Täuschungen, Verwirrungen, Konditionierungen und Mustern übersteigen, müssen unsere innere Bühne von all den überflüssigen Kulissen befreien und leer räumen, bis wir die große Leere berühren, die nichts anderes ist als die größtmögliche Fülle einer inneren Endlosigkeit, die die Patriarchen des Zen das ›Denken am Grunde des Nichtdenkens‹ genannt haben. Von diesem kraftvollen Augenblick des Nichtdenkens, in dem Leere und Überfülle gleich sind, war und ist die Rede, wenn wir von dem ›Urmoment‹ sprechen, der als Motto über dem Programm des in diesem Jahr zu Ende gehenden Zyklus der Ruhrtriennale geschrieben steht.

Kunst und Spiritualität treffen sich in diesem Urmoment, sind zwei unterschiedliche Wege, die zur gleichen Quelle zurückführen, der kraftvollen, leeren Offenheit vor jedem Gedanken, vor jedem Wort, vor jedem Bild. Dieser Moment ist ohne Ausdehnung, ohne Raum, ohne Zeit. Seine Wahrheit ist immer JETZT, im nächsten Moment ist sie schon anders - wie die Kunst. Kunst ist immer JETZT.

Wir Menschen können das JETZT nicht fassen. Wenn wir uns des gegenwärtigen Augenblicks bewusst werden, ist er schon vergangen. Immer, wenn wir nach dem JETZT greifen, ist es uns schon entkommen - in die Vergangenheit.

Die großen japanischen Meister der Kalligraphie sagen, das Schwerste ist nicht die Linie, nicht der Kreis, das Schwierigste ist der Punkt, und es brauche ein ganzes Leben, um zu lernen, einen Punkt zu ›setzen‹, weil er eigentlich ohne Ausdehnung ist, ohne Raum, ohne Zeit - wie das JETZT. Der Punkt ist das reine JETZT - ihn abzubilden, zu ergreifen, zu erfassen, gelingt nur im Loslassen von allen Konzepten, in der Leere, die ohne Absicht ist - und in der Kunst, die sich auch nur dann ereignet, wenn sie nicht mehr gewollt ist, wenn der Künstler nicht sucht, sondern im Gegenteil die Suche aufgibt, wenn er loslässt. So sind Meditation und Kunst tief verwandt, sind komplette und totale Berührung des JETZT.

In meiner letzten Saison als Intendant begibt sich die Ruhrtriennale in der Leere ihrer grandiosen Industrieräume auf die ­Suche nach dem JETZT, dem erfüllten Augenblick, von dem ­Goethe spricht und von dem bei den großen buddhistischen ­Meistern die Rede ist, wenn sie von Befreiung - Samadhi, Nirwana und Er­wachen - sprechen.

Mit dieser Suche wendet sich die Ruhrtriennale nach der Befragung zweier theistischer Religionen bewusst einer nicht­theistischen Tradition zu, dem Buddhismus, der am Ende unseres ­dreijährigen Weges noch einmal alles, unsere Wahrheiten und unsere Gewissheiten, radikal und total in Frage stellt. Dabei wollen wir nicht die exotische Oberfläche des Buddhismus abbilden, keine Räucher­stäbchen, keine Tempeltänze und auch kein Nô-Theater, wir wollen nicht die im Westen so gründlich missverstandene und oft verzerrte äußere Form des Buddhismus zur Schau stellen, ihn nicht dort suchen, wo alle ihn vermuten, sondern im Gegenteil da, wo er erst auf den zweiten und tieferen Blick sichtbar wird. Die ­Radikalität buddhistischen Denkens und Handelns als Kristalli­sation menschlicher Erkenntnis wollen wir dort finden, wo sie sich in den Tiefen der großen Werke unserer abendländischen Kultur ­spiegelt, wo meditatives Erkennen im Buddhismus und künstlerische ­Kreativität des Abendlandes, aus der gleichen Quelle gespeist, ineinander­fließen: in Richard Wagners opus metaphysicum Tristan und Isolde, wo musikalische Struktur und äußere Handlung auf revolutionäre Weise ins Offene, ins Unaufgelöste zerfließen und sich das abendländische Konzept von feststehenden Welten in die Relativität auflöst; bei Shakespeare, der im Macbeth das Ich als das behauptete Zentrum der Welt so radikal zertrümmert und darunter die nackte Kreatürlichkeit, das reine, leere Sein des Menschen in das grelle Licht seiner Bühne stellt; oder bei Samuel Beckett, in seinen Texten und Stücken, die um das Nichts kreisen und die Sprache bis zum radikalen Verstummen in Frage stellen; und schließlich bei Franz Kafka, der in seinem Schloß eine dunkle Variation des Mandala erschafft, dessen geheimnisvolles Zentrum unsichtbar und un­betretbar bleibt.

In all diesen Werken ist das Innerste der Welt, die sie ab­bilden, ein offener Raum, der von jedem beschreibbaren Inhalt entleert ist, in dem keine erkennbare, zentrale Kraft zu finden ist, kein lenkender Gott und keine sich entfaltende Urmaterie, sondern das Schweigen einer unaussprechbaren, offenen Weite als Raum für grenzenlose Möglichkeit. Aus diesem Raum wird unsere Gegenwart in jedem Augenblick ununterbrochen neu geboren. Die Epiphanie dieses JETZT ist unser Ziel, die Berührung der großen Leere, Shunyata, ist der Moment unserer Ankunft, nicht irgendwo, nicht irgendwann, immer nur dort, wo wir einzig wirklich sind und immer schon waren, im JETZT.