RuhrTriennale
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Jürgen Flimm Für Marie

Für Marie

Als die schreckliche Nachricht uns erreichte, legte sich eine bleierne Schwere auf unsere Gemüter. Marie Zimmermann war zu Tode gekommen.

Dieser Herbst wäre ihre erste Spielzeit bei der RuhrTriennale gewesen. Wir waren froh, dass sie diese wahrlich nicht einfache Aufgabe übernommen hatte – eine fröhliche, zupackende, erfolgreiche Theaterfrau hatte uns so plötzlich verlassen. Wie sollte es nun weitergehen? Wir haben uns bald zusammengesetzt; wir wollten dieses schöne Festival nicht im Stich lassen, war unsere klare Meinung, wir wollten also dieses Jahr im Sinne von Marie Zimmermann weiterführen. Für viele von uns war dies eine schwierige Entscheidung, viele hatten andere Pläne, mancher Koffer war schon gepackt; auch für mich galt es, meine Arbeit als Intendant der Salzburger Festspiele mit der Tätigkeit hier im Revier in Einklang zu bringen. Wir haben uns neu organisiert, neben meinem Kollegen Jürgen Krings haben sich besonders Andrea Kaiser, Ulli Stepan und Thomas Wördehoff um alle Belange der Triennale als Leitungsteam gekümmert.

Ein wichtiges Thema für Marie Zimmermann war die »Fremde«, die Fremde in uns, die Unbehaustheit in dieser unwirtlichen Welt, wo kaum noch Platz in der Herberge ist, Heimat verschwommen ist. Einige Facetten von Maries großem Thema haben wir aufgenommen, ihre Pläne studiert und viele ihrer Ideen umgesetzt. So stellen wir Ihnen, liebes Publikum, dieses Jahr ein Programm vor, das wir aus ganzem Herzen Marie widmen.

Johan Simons kommt wieder zu uns, unser guter Nachbar aus Gent, führt uns auf die Vergeten straat von Louis Paul Boon, die Vergessene Straße. Auch Alain Platel kommt wieder, pitié ! Erbarme Dich ! heißt seine neue Tanzschöpfung, mit Musik aus der Matthäuspassion, auf die wir uns sehr freuen. Die Münchner Kammerspiele zeigen uns ein neues Stück von Händl Klaus und Lars Wittershagen. Der Regisseur Sebastian Nübling hat uns letztes Jahr mit seinem Parzival und seiner jungen Truppe aus Basel so sehr begeistert. Direkt aus dem Pott kommt unser neuer Gast, aus Oberhausen, Christoph Schlingensief, einer der bedeutendsten deutschen Künstler, er ist ja selber ein Gesamtkunstwerk: Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir wird er in der Gebläsehalle in Duisburg aufbauen. Aus dem fernen München kommt auch die Bayerische Theaterakademie zu uns und zeigt uns Die Nacht, einen Abend mit Texten von Einar Schleef, dem zu früh verstorbenen, sprachmächtigen Regisseur und Autor, und der Musik von Mozart. Regie führt Anna Viebrock, die wir von Christoph Marthalers versponnenen, schönen Arbeiten kennen. Sie ist seit Jahren seine Bühnenbildnerin.

Schorsch Kamerun, Sänger der Goldenen Zitronen und inzwischen als Regisseur international tätig, wird in Gladbeck mit Westwärts eine musiktheatralische Installation zu Texten des Dichters Rolf Dieter Brinkmann inszenieren. Der holländische Theatermann Ivo van Hove wurde noch von Marie beauftragt, Luchino Viscontis legendäres Emigrationsdrama Rocco und seine Brüder / Rocco e i suoi fratelli in der Bochumer Jahrhunderthalle für die Bühne zu bearbeiten. Und in unserer Reihe Werk wird in diesem Jahr nach Andrea Breth, Peter Zadek und Claus Peymann der bedeutende Regisseur Luc Bondy präsentiert: Marivaux’ Liebeskomödie La Seconde Surprise de l’amour, eine Koproduktion der RuhrTriennale, die kürzlich in Paris Premiere hatte, und Shakespeares König Lear in einer Aufführung des Wiener Burgtheaters stehen im Mittelpunkt der Würdigung.

Die bulgarische Mezzosopranistin Vesselina Kasarova, die auf allen großen Bühnen der Opernwelt zu Hause ist, wird uns in O, nuit d’amour ... ! mit den Couplets und Arien von Jacques Offenbach, dem berühmtesten Kölner Export nach Paris, verführen – begleitet von dem Schauspieler Jan Josef Liefers, der durch die herrlich sarkastischen Texte der Brüder Goncourt das amüsante Zeitkolorit liefern wird. Mnozil Brass, das schräge Bläserseptett aus Wien, wird nach dem Erfolg ihres Trojanischen Boots in diesem Jahr Irmingard in den opernseligen Hafen der Ehe führen. Und Anne Teresa De Keersmaeker wird mit Zeitung in diesem Jahr zum ersten Mal bei der Ruhr Triennale ein Tanzstück zeigen, ebenso wie Benoît Lachambre und Louise Lecavallier, die mit Is you me ihr Debüt bei uns geben werden. Das geschieht, wie schon in den vergangenen Jahren, in Zusammenarbeit mit unseren lieben Kollegen von PACT Zollverein. Ein ausführliches Literaturprogramm lädt ein zu Begegnungen mit schon bekannten Dichtern und neuen Talenten. Für unsere jüngsten Zuschauer veranstalten wir in diesem Jahr nicht nur eine erweiterte Form unserer Theaterakademie für Kinder – die renommierte britische Theaterfrau Sue Buckmaster wird unsere jungen Besucher mit der Produktion Salt in der Salzfabrik der Kokerei Zollverein in die Geheimnisse des Salzes ein führen.

Und last, but not least wird auch in diesem Jahr unsere exklusive Konzert reihe Century of Song unter der musikalischen Leitung von Joe Henry durchgeführt, mit so großen Songwritern wie Mose Allison, Rosanne Cash, Meshell Ndegeocello, Billy Bragg und anderen. Und Mike Herting, der Kurator der Konzerte des letzten Jahres, wird in diesem Herbst eine Reihe von Shows mit Musikern aus unserer Region veranstalten, die ihre Wurzeln in unterschiedlichen Kulturen haben.

So viele interessante Aufführungen, Konzerte, Lesungen, Diskussionen, die Sie besuchen können in unseren ehrwürdigen Hallen hier im Revier. Wir freuen uns auf Sie!

Und Willy Decker, dem neuen Intendanten der RuhrTriennale bis 2011 wünsche ich das Allerbeste und großen Erfolg für die nächsten Jahre in den schönsten Spielstätten, die man sich denken kann: Toi, toi, toi, lieber Willy, mach et joot!

Bis die Tage!

Ihr Jürgen Flimm

PS: Und, wir fahren nach New York! Am 5. Juli haben dort unsere Soldaten in der Armory Hall – einer alten Paradehalle der New Yorker Regimenter – Premiere! Fahren Sie doch mit zum Big Apple!