Anarchie und Präzision
Die Kraft der Big Band

Eigentlich ist es ein Witz: Da wirft sich ein ganzes Jahrhundert im Geist von Melancholie, Sentiment und Tragödie orchestral ins Zeug, fährt Hundertschaften von Musikern auf, um dem kreativen Ausstoss genialer Komponisten Genüge zu tun – und just dann, als die Sinfonieorchestertruppen Europas ihren ersten Höhepunkt erreicht haben, schickt sich Amerikas Clubszene an, im noch jungen Jazzgenre die ersten Grossformationen zu gründen. Grossformationen: Während die musikalischen Geschwader der Alten Welt mit bis zu 120 Instrumentalisten anrückten, war eine durchschnittliche Big Band in New York, Chicago oder Kansas City gerade mal mit 18 Musikern besetzt. „Der Vorwurf eines übertriebenen Aufwandes passt also gewiss nicht zum Jazz“, wie es später der Jazzjournalist Joachim-Ernst Berendt trocken resümierte. Wohl wahr – wer sich aber einmal Count Basies „The Kid From Red Bank“ oder Ellingtons „Rockin’ in Rhythm“ hat überrollen lassen, wird bestätigen können, dass geballte Kraft und fetzender Drive nicht vom personellen Umfang einer Band oder eben eines Orchesters abhängen.

„It Don’t Mean a Thing (If It Ain’t Got That Swing)“ war nicht nur ein grosser Song von Duke Ellington und Irving Mills – der Titel war lieferte auch das qualitative Motto des Big Band Jazz überhaupt (eine Prämisse freilich, die nicht nur ein Grundparameter des Jazz bilden dürfte!). Eine gute Big Band verfügt über die Schlagkraft eines versierten Pitchers und jenem einzigartig federnden Kraftmoment, das elegante Beiläufigkeit und nervöse Anspannung gekonnt auszubalancieren weiss. Ein Big Band Ensemble, das den Namen verdient, hat sowohl die mörderische Präzision der Bolschoi-Tänzer in den Knochen, als auch die individuelle Ausdruckswut von anarchischen Einzeltätern. Die Mitspieler der Band können sich nicht nur auf das von den Arrangeuren geschriebene Notenmaterial oder auf das Charisma des Bandleaders verlassen: Erste Tugend des Big-Band-Musikers – ob Solist oder Tuttist – ist die eigene Reaktionsschnelle. Nur wenn die Virtuosen der Band unmittelbar auf Vorgaben ihrer Kollegen reagieren, entsteht jener dramatische Drive, der den unwiderstehlichen Charme der bedeutenden Ensembles ausmacht.

Die Geschichte der Big Bands begann unspektakulär – wirklich „erfunden“ wurden die Sounds nicht. Eher entwickelte sich das Jazzorchester aus einer historischen Notwendigkeit, die sich aus Pragmatismus und Neugier addierte. Anfang der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hatte sich New York immer mehr zum kreativen und wirtschaftlichen Siedepunkt der neuen Popmusik entwickelt. Die neue Popmusik definierte sich vor allem aus den Songs der Tin Pan Alley (siehe auch den Beitrag über George Gershwin), die hauptsächlich für Musicals und Revuen verfasst wurden, und aus den unzähligen Formationen, die in Bars, Speak Easies und Musikclubs entstanden. Seit 1910 gab es „society dance orchestras“ wie etwa James Reese Europe oder etwa die herrlich albernen Fifty Joy Whooping Sultans of High Speed Syncopation. Ragtime und Dixieland bildeten die Grundelemente dieser Bands, die, meist nur von kurzer Lebensdauer, den Schmelztiegel New York aufmischten.

Ende der zwanziger Jahre waren es der Bandleader Fletcher Henderson und sein Arrangeur Don Redman, die die ersten virtuosen Sätze für das Fletcher Henderson Orchestra schrieben. Ihre Kunstfertigkeit und ihr Sinn für Komplexität griffen bald um sich: Der junge Benny Goodman versicherte sich sehr früh Hendersons Begabung, Duke Ellington begann (noch als Chef der Haus-Band des Cotton Club), die Welt des Jazz mit Sophistication und Raffinesse zu konfrontieren. Das Goldene Zeitalter der Big Band hatte begonnen und sollte, geleitet von Stars wie Count Basie, den Dorsey Brüdern, Artie Shaw, Chick Webb, Cab Calloway, Jimmie Lunceford, Woody Herman, Billy Eckstine und vielen anderen, die amerikanische Musikgeschichte mit geschrieben haben.

Mit unseren Tributes To The Kings Of Jazz Serie will die RuhrTriennale einen Blick auf dieses „uramerikanische“ Phänomen werfen – aus europäischer Sicht. Keine enzyklopädische Aufreihung berühmter Musiker der Big Band Ära – vielmehr eine Hommage an bedeutende Erfinder des amerikanischen Jahrhunderts in der Musik.
Thomas Wördehoff


SCHWARZ ROT ATEMGOLD 09
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VIENNA ART ORCHESTRA 1
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OLD WORLD - NEW WORLD
A GERSHWIN NIGHT
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