Nach "La caduta degli dei" ("Die Verdammten")
von Nicola Badalucco, Enrico Medioli und Luchino Visconti
Für die Bühne eingerichtet von Tom Blokdijk
In deutscher Sprache

Regie Johan Simons, Paul Koek  Musik Heiner Goebbels, Frances-Marie Uitti, Ton van der Meer, Paul Koek  Bühne Leo de Nijs, Paul Beuk, Ronald Roffel  Kostüme Dorine van Ijsseldijk, Joke Sommen, Jolanda van de Ven  Dramaturgie Tom Blokdijk  Mit Jeroen Willems, Elsie de Brauw, Fedja van Huêt, Sanne van Rijn, Aus Greidanus Jr., Mathijs Scheepers, Carola Arons, Thekla Reuten, Gonny Gaakeer  Deutsche Übersetzung Monika Thé  Einstudierung Anne Schöfer  Ton Will Jan Pielage  Technik Lizz Jagers, Ate-Jan van Kampen, Jurgen Kuif, Arno Lips, Ronald Roffel  Produktion André Lasance, Marijn van Raak

DUISBURG-NORD, GEBLÄSEHALLE, LANDSCHAFTSPARK, 07.09., 08.09., 14.09., 15.09.

Gastspiel von Zuidelijk Toneel Hollandia

Preisgruppe A Reihe 1 - 14: € 36 | B Reihe 15 - 22 € 24 | C Reihe 23 - 31: € 10


Der Kampf um Macht und Führung wird in großen Familienunternehmen oft mit ähnlicher Grausamkeit betrieben, wie in der großen Politik. Der Untergang der Industriedynastien in der Mitte des 20. Jahrhunderts fing nicht selten mit einem an Shakespearedramen erinnernden Szenario an. So lag es nahe, daß der kritische Filmemacher und Sohn einer großen, alten Familie Luchino Visconti sich für die internen Machtkämpfe etwa der Krupps interessierte; nicht zuletzt wegen ihrer Verwicklungen mit dem beginnenden Nationalsozialismus. Sein Film “La caduta degli dei” (Originaldrehbuch von Nicola Badalucca, Enrico Medioli und Luchino Visconti; dt. “Die Verdammten”) behandelt einen Stoff, der schon William Shakespeare (Macbeth), Fjodor Dostojewski (Die Dämonen) und Thomas Mann (Die Buddenbrooks) beschäftigte. Visconti zeigte in seinem Film, wie mächtige Industrielle sich im Kampf um die Macht in die Verstrickungen mit einem verbrecherischen Regime geraten.

Vom Drehbuch zum Theatertext
Die Art und Weise, wie das Drehbuch zum Theatertext bearbeitet wurde, war einerseits von einigen technischen Überlegungen diktiert und andererseits von einigen Entscheidungen der Regie bestimmt. Zuerst gab es den Entschluss, die Schauspieler mehrere Rollen spielen zu lassen. Den Anstoß zu diesem Entschluss gab die Erfahrung mit “Zwei Stimmen”, Jeroen Willems spielt in diesem Stück fünf verschiedene Figuren. Er macht das nicht zum ersten Mal. In “Die Perser” spielte er bereits drei Rollen: den Boten, Dareios und Xerxes. Wurde diese Entscheidung bei Aischylos noch von der Praxis in Aischylos' Zeit beeinflusst und dem Bedürfnis zu erfahren, was das für einen Schauspieler der heutigen Zeit bedeutet, so ging es bei Zwei Stimmen um die Verwandlung an sich: die Erfahrung, jemand anderer zu sein, jemand, der die anderen Figuren aus einem anderen Blickwinkel sieht, als die erste Figur, die der Schauspieler spielt. Der Fall der Götter geht einen Schritt weiter. Diesmal kreisen die Transformationen der Schauspieler fortwährend um die Frage, was für eine Person sie unter bestimmten Umständen sein wollen und können.
Denn wenn man vom Zweiten Weltkrieg spricht, steht das moralische Urteil über die Beteiligten ja schon von vornherein fest. Wir wissen, was gut und böse ist und damit auch, wer gut und wer böse war. Es ist so als wären wir im Geist noch Menschen aus dem Neunzehnten Jahrhundert. Die gingen davon aus, dass der Mensch einen fest umrissenen Charakter habe, der eben so sei, wie er sei, gut oder böse. Natürlich wusste man, dass jemand sich verstellen konnte. Dass „zwei Seelen in einer Brust" wohnen konnten, hatte man auch schon festgestellt, aber erst im Laufe des Zwanzigsten Jahrhunderts wurde offenkundig, dass eine Person zahlreiche Persönlichkeiten in sich birgt, die abhängig von der Situation in den Vordergrund treten. Ein und derselbe Mensch konnte mutig und kriminell sein, Opfer und Täter, nobel und niederträchtig, Held und Halsabschneider. (Ich weiß nicht was ich gemacht hätte wenn ich damals jung gewesen wäre und in Deutschland gelebt hätte.)
Um diesen vielen Möglichkeiten Gestalt zu verleihen, spielt Jeroen Willems in “Der Fall der Götter” die drei einander nachfolgenden Generaldirektoren der Essenbecker Stahlwerke: die letzten beiden ermorden ihren jeweiligen Vorgänger. Er spielt also Täter und Opfer. Elsie de Brauw spielt die Frauen hinter den Männern. Die eine unterstützt ihren Mann und kommt in Dachau um; die andere stiftet ihren Mann aus Machtgier zum Mord an und wird im Kampf um die Nachfolge vom eigenen Sohn ermordet. Fedja van Huêt spielt sowohl jenen den Nazis feindlich wie auch jenen den Nazis freundlich gesinnten Direktor. Der eine wird wegen „Landesverrats" zum Tode verurteilt, der andere wird liquidiert, noch bevor sein Griff nach der Macht beim Essenbecker Stahlwerk von Erfolg gekrönt ist. Inmitten dieser Ereignisse wählen alle drei immer wieder eine andere Rolle: sie besitzen mehrere mögliche Identitäten. Einzig Mathijs Scheepers spielt nur eine Figur, den Hauptsturmführer, der die Mörder zu ihren Taten anstiftet und diese sanktioniert. Er trifft nur eine Entscheidung und hat nur ein Ziel. Die Nazis sollen die Verfügungsgewalt über die Essenbecker Stahlwerke bekommen und sie in eine Waffenfabrik verwandeln. Innerlich gesteht er sich nur eine einzige Identität zu.

Neben dem Entschluss, alle acht Protagonisten von vier Schauspielern spielen zu lassen, hatte auch der Entschluss, jedem Schauspieler einen eigenen Diener zuzuteilen, Einfluss auf die Bearbeitung. Die Diener sind Zeugen der Gräueltaten, die ihre Herren begehen oder deren Opfer sie werden. Wir sehen, wie unterschiedlich sie sich demgegenüber verhalten und können daran ermessen, wie unterschiedlich wir uns verhielten, wenn wir Zeugen derartiger widersinniger Taten und Ereignisse würden. Aber auch die Diener haben ihre eigene fließende Identität. Sie suchen sich gleichfalls eine andere Rolle aus, um der anderen Seite ihrer Persönlichkeit Gestalt zu verleihen. Im weiteren Verlauf des Stückes werden die Geschehnisse immer mehr von ihnen bestimmt. Auf diese Weise wird in “Der Fall der Götter” die Frage gestellt, wie wir sind, sein würden, sein könnten, sein wollten. Und eine beklemmende Frage bleibt. Denn: „Die Zivilisation hat keinen bleibenden Sieg über die Barbarei erbracht. Moralische Bündnisse sind leicht zu widerrufen." (Peter Conrad) Johan Simons

Die Musik
Die Musik zu “Der Fall der Götter” spiegelt die verschiedenen Räumlichkeiten wider, in denen sich die Szenen abspielen, ist manchmal auch wie „Filmmusik" und verleiht der betreffenden Szene Spannung. Oft wird die Musik improvisiert, jedoch in einem vereinbarten „Rahmen“ und mit ausgewählten Samples, wobei auf Tempo, Gefühl und Timing der Schauspieler reagiert wird. Die Musik will kein „weicher Teppich" sein, auch wenn sie damit flirtet. Zu einem treibt sie die Handlung voran, dann verharrt sie wieder bei den Greueltaten. Mit der Zustimmung und Mitarbeit von Heiner Goebbels wurden Fragmente seines Werkes (komponiert für das Ensemble Modern) von dem Trio Uitti, van der Meer und Koek bearbeitet (für Cello, Spinett / Synthesizer / Samples und Schlagzeug). Jeder der drei Musiker kommt aus einer anderen musikalischen Richtung, und sie haben sich arbeitend, spielend und diskutierend die Musik zu eigen gemacht und sie neu instrumentiert. Die Musikstücke von Goebbels, darunter Teil V, VI und VII aus “Red Run”, “Over some flasks” und “Uni Sone” aus “Black and White”, sind vor allem im ersten Akt zu hören.

Die letzte Szene im zweiten Akt, die SA-Szene, ist aus „infiziertem" Material zusammengestellt: aus Hitlers Stimme, Reden, Massengesang und SA-Liedern wie dem Horst Wessel-Lied. Dieses Material wird verzerrt, verlangsamt, beschleunigt, sowohl live als auch in Samples. So wird auch Hitlers Aufruf an die Masse „Wollt ihr den totalen Krieg" zu Maschinengewehrfeuer und zu einer
Art Schweinegequieke verzerrt.

Während des dritten Aktes wird – nach einer groben Einteilung in „Rahmen“ – improvisiert, um dicht bei den Musikern/Schauspielern zu bleiben und die Musik mit der Handlung zu verschmelzen. Die Szene zum Beispiel, in der Sophie weint, ist zu einer Quartett-Improvisation rund um ein Duo zwischen Elsie de Brauw und Francis-Marie Uitti geworden: Töne werden übernommen, die Opposition wird eingenommen und das Ende ist jedesmal anders. Von der Hochzeit an wird die Szene von einem Tango begleitet oder gefärbt, der genauso krank zu sein scheint wie die Situation selbst. Gleichzeitig trägt die Musik aber die Szene einfühlsam ihrem Ende entgegen.
Paul Koek

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