Zwischenzeit

Noch nie haben wir so stark empfunden, dass sich innerhalb kurzer Zeit alle unsere Lebensumstände verändern werden. Flüchtende, vertriebene und migrierende Menschen durchziehen die Kontinente, werden ausgegrenzt, durch ewige bürokratische Prozesse am Leben gehindert. Verteilungskriege von unvorstellbarer Grausamkeit zerstören ganze Gesellschaften und Kulturen. Spätestens jetzt hat jede*r begriffen, dass die Forderungen nach Beteiligung, Gleichheit und Freiheit keine Frage eines politischen Geschmacks sind, sondern eine Frage des zivilisierten Überlebens. Die migrierenden Menschen sind eine sichtbare Chiffre des 21. Jahrhunderts, die Avantgarden eines neuen Zeitalters. Sie flüchten aus ökonomischer Not und aus Kriegen, die von den reichen Ländern der westlichen Welt verursacht werden. Alle für selbstverständlich gehaltenen Parameter von Ökonomie, Nation und Identität sollen neu befragt werden. Von dieser Infragestellung sind die Institutionen von Kunst und Kultur und ihre Macher*innen nicht ausgenommen.

Die Zwischenzeit ist unsere Chance: die Veränderung aller sozialen und kulturellen Verhältnisse kreativ mitzugestalten, statt in Furcht und Abwehr zu verharren. Als Menschen der Zwischenzeit sind wir neugierig und erfinderisch. Wir entwickeln neue Aufmerksamkeiten. Wir wollen in offenen Gesellschaften leben, mit gleicher Beteiligung aller. Wir werden vieles ändern müssen, wir werden teilen müssen, wenn wir die Offenheit behalten, autokratische Regierungen, neue Nationalismen und Rassismus verhindern und nicht in Verteilungs- und Klimakriegen untergehen wollen. Die Ruhrtriennale 2018 wird neue ästhetische Formen und Zwischenformen erkunden, Stoffe und Themen suchen, Formate des Vorläufigen erfinden für ein Lebensgefühl der Zwischenzeit.

Das Festivalzentrum Third Space der Gruppe raumlaborberlin ist eine Bruchlandung oder eine Reparatur: Ein Flugzeug, das entweder abgestürzt ist oder umgebaut wird, oder – wie unsere Gesellschaften – alles beides. Im Musiktheater und in Konzerten dominieren die zeitgenössische Musik und das hybride Genre. Charles Ives, der für die Zukunft schrieb, ist mit Abstand der älteste Komponist im Programm. Seine nie vollendete Universe Symphony wird der Artiste associé der Ruhrtriennale, Christoph Marthaler, in der gesamten Bochumer Jahrhunderthalle inszenieren.

Mit Vertreibung und Migration beschäftigen sich Künstler*innen der Ruhrtriennale 2018: Der aus Burkina Faso stammende Choreograph Serge Aimé Coulibaly und die aus Mali stammende Musikerin Rokia Traoré, die französisch-marokkanische bildende Künstlerin Bouchra Khalili, Hans Werner Henze mit Das Floß der Medusa, das Hezarfen Ensemble, der amerikanische Musiker und Künstler Elliott Sharp mit Filiseti Mekidesi (In Search of Sanctuary) sowie das neue Stück von Theatre-Rites The Welcoming Party im Programm der Jungen Triennale. Mit #nofear begeben sich über 40 Jugendliche aus aller Welt in ein auf drei Jahre angelegtes Stadtprojekt.
Sasha Waltzs Choreographie Exodos, die sie in der Jahrhunderthalle Bochum für die Ruhrtriennale kreiert, zeigt verzweifelte Menschen, die in etwas gefangen sind und nach einem Ausweg suchen.

Der Künstler Olu Oguibe nennt seine Skulptur Appeal to the Youth of All Nations. Der argentinische Film- und Theaterregisseur Mariano Pensotti erzählt die Geschichte einer Privatstadt im argentinischen Dschungel und ihrer Bewohner*innen. In der neuen Arbeit des Nature Theater of Oklahoma aus New York ist das Theater nur noch ein Relikt in Form eines Vorhangs, der von arbeitslosen Schauspieler*innen bewacht wird. Und das Konzertprogramm präsentiert Musik, die ihre Wurzeln nicht nur in europäischer Kunstmusik hat.

Viele Kreationen der Ruhrtriennale 2018 lösen die Grenzen zwischen den Genres auf, sind ebenso Konzert, Choreographie, Performance oder Installation. Nichts ist sicher. Dazwischen? Zwischenzeit!

Wir möchten Sie ganz herzlich zu unserem diesjährigen Programm in die großartigen Spielorte der Ruhrtriennale einladen.

Stefanie Carp
INTENDANTIN / ARTISTIC DIRECTOR
RUHRTRIENNALE 2018 2019 2020