Die Natur des Menschen - Lesung III: Natur und Arbeit. Auf dem Bild v li Anja Herden, Carolina Bigge
Die Natur des Menschen - Lesung III: Natur und Arbeit. Auf dem Bild v li Anja Herden, Carolina Bigge | © Caroline Seidel / Ruhrtriennale 2021

Ziemlich neurotisch, jedenfalls unausgeglichen, von einem Extrem ins andere schwankend, so lässt sich die Beziehung des Menschen zur Natur wohl am besten beschreiben.

Über die Reihe

Wir müssen von ihr nehmen, da wir essen wollen, wir müssen töten, bebauen und ernten. Wir können die Natur nicht in Ruhe lassen, müssen eine Furche ziehen, einen Baum schlagen, mit dem wir das Haus oder den Schiffsmast bauen. Die Frage, wie viel wir nehmen dürfen um uns zu erhalten, wo die Grenze liegt zwischen Bedarf und Raub, sie treibt uns seit jeher und bis heute um. Als Menschen stören wir einen Kreislauf, der ohne unser Eingreifen im Gleichgewicht geblieben wäre. Und auch die Affekte, die uns durch diese Erkenntnis befallen, sind dieselben geblieben. Gier, Scham, Reue, Dankbarkeit - es ist diese Zerrissenheit, die in der Literatur aufscheint, das Leiden daran und der Wunsch nach Ausgleich, nach der Harmonie von Geben und Nehmen.

Die Autor:innen der Genesis kennen wir nicht. Aber wir kennen die Leser:innen durch die Jahrhunderte, wir kennen die Wirkungen dieser Fundamentalerzählung des Westens. Ein Mann wird zum Opfer einer Verführung, die ihn und seine Nachkommen aus der heimatlichen Schöpfung vertreibt und zur Arbeit zwingt. Arbeit ist seither eine Strafe, keine Gnade, und eine Rückkehr zum Baum des Lebens ist in dieser Erzählung verwehrt.

Die Mishna ist die Grundlage des Talmud und der erste Versuch, die Folgen dieser Vertreibung in einem Gesetzeswerk zu organisieren. Mit großer Akribie weist sie die Wechselfälle des menschlichen Lebens nach, seitdem er sich aus Gottes Heimstatt entfernt hat und gezwungen ist, in Gesellschaft unter seinesgleichen zu leben und sich eine Ordnung zu geben, eine die Gott und seiner Natur entspricht. Dieses reiche und dem Leben zugewandte Werk entstand um die Zeitenwende im Nahen Osten.

Charles Mungoshi, geboren 1947, gestorben 2019, aus Zimbabwe, war Verleger, Übersetzer, Romancier und gelegentlich Lyriker. Er schrieb in Shona und Englisch. Er berichtet über den Zwang, die eigene Heimat zu verlassen, um in der Fremde sein Brot zu verdienen, über die Nöte und Ängste jener, die gehen, und der andern, die bleiben, ein Drama, das sich in Afrika jeden Tag millionenfach wiederholt.

Chinweizu gehört zu den wichtigsten Intellektuellen Nigerias. Er studierte am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, USA, wo er von der Black Power Bewegung inspiriert wurde. Als Satiriker und Lyriker hat er sich nicht nur Freunde gemacht, denn der Lohn der Arbeit und die Früchte der Natur sind in seinem Heimatland seit der Geburt des Dichters im Jahr 1943 sehr ungerecht unter den Menschen verteilt.

»Ich muss allerdings gestehen«, meinte die nachmalige Nobelpreisträgerin Toni Morrison, geboren 1931 in Lorain, Ohio, gestorben 2019 in New York City, in einem Gespräch mit Thomas LeClair, »dass ich manchmal das Interesse an den Figuren verliere und mich viel mehr für die Bäume und Tiere interessiere. Ich denke, dass ich mich dabei sehr zurückhalte, aber mein Lektor sagt: ›Würdest du bitte mit dieser Schönheitssache aufhören.‹ Und ich sage: "Warte, warte, bis ich dir von diesen Ameisen erzähle.«

Gewiss gehören die Gedichte der Annette von Droste-Hülshoff, geboren 1797, gestorben 1848, zu den wundersamsten und erstaunlichsten Preziosen der Weltliteratur. Ihr Blick scheint das Makro- wie das Mikrouniversum vollständig zu umfassen und zu durchdringen, und wie genau und unerbittlich sie die Natur des Menschen wahrnahm und wie sie die Verblödung und die Hoffnungslosigkeit voraussah, die der Raubbau des Homo oeconomicus an der Natur mit sich bringen, davon zeugen auch die Reiseberichte aus Westfalen.

Die Erfahrungen, die Warlam Schalamow in seinem Leben machen musste, die Vernichtung eines Menschen durch Zwangsarbeit, sind für das Zwanzigste Jahrhundert ganz gewöhnlich und millionenfach belegt. Aber nur wenige haben darüber schreiben können, und noch weniger tun es mit dieser Härte und Schärfe, mit dem gnadenlosen Blick dieses Dichters, der 1907 in Wologda geboren wurde und im Alter von zweiundzwanzig Jahren zum ersten Mal in Lagerhaft kam. Seine Erzählungen aus Kolyma, jener im Grunde unbewohnbaren Wüste am Polarkreis, berichten von dem, was von einem Menschen übrigbleibt, wenn man ihn bei sechzig Grad Kälte zur Arbeit zwingt: »Ich habe erkannt, dass der Mensch zum Menschen geworden ist, weil er physisch kräftiger, zäher als jedes Tier ist - kein Pferd hält die Arbeit im Hohen Norden aus.« Der Dichter Warlam Schalamow starb 1982 im Alter von fünfundsiebzig Jahren in einer Nervenheilanstalt.

Rose Ausländers Leben folgte den Tumulten des Jahrhunderts und führte sie von Czernowitz, wo sie 1901 geboren wurde, aus Österreich-Ungarn nach Rumänien, in die Vereinigten Staaten, zurück nach Rumänien, dann wieder nach New York, wieder nach Rumänien, zurück nach New York und schließlich 1967 nach Düsseldorf, wo sie die letzten einundzwanzig Jahre ihres Lebens verbrachte. Der Erfolg ihrer Gedichte erlebte sie erst in den letzten zehn Jahren ihres Lebens. Der Himmel, die Sonne, die Vögel - Rose Ausländers Lyrik findet den tätigen Menschen in einer harten, aber keineswegs gleichgültigen Natur. Im Gedicht Israel heisst es: »Auf rebellischem Boden//
verläßlich die Hüter//pflanzen//beständigen Traum.«

Die Natur des Menschen - Lesung III: Natur und Arbeit. Auf dem Bild Anja Herden
Die Natur des Menschen - Lesung III: Natur und Arbeit. Auf dem Bild Anja Herden | © Caroline Seidel / Ruhrtriennale 2021
Die Natur des Menschen - Lesung III: Natur und Arbeit. Auf dem Bild v li Anja Herden, Carolina Bigge
Die Natur des Menschen - Lesung III: Natur und Arbeit. Auf dem Bild v li Anja Herden, Carolina Bigge | © Caroline Seidel / Ruhrtriennale 2021
Die Natur des Menschen - Lesung III: Natur und Arbeit. Auf dem Bild v li Anja Herden, Carolina Bigge
Die Natur des Menschen - Lesung III: Natur und Arbeit. Auf dem Bild v li Anja Herden, Carolina Bigge | © Caroline Seidel / Ruhrtriennale 2021
Die Natur des Menschen - Lesung III: Natur und Arbeit. Auf dem Bild Carolina Bigge
Die Natur des Menschen - Lesung III: Natur und Arbeit. Auf dem Bild Carolina Bigge | © Caroline Seidel / Ruhrtriennale 2021

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