Er lebte auf einem anderen Dach, in einer anderen Stadt, in einer anderen Zeit, in meiner Kindheit, hoch über dem Fluss, zuoberst über einer Gasse in der Altstadt, wo ich mit meiner Mutter lebte und wo der Vater noch, bevor er endgültig verschwand, bisweilen auftauchte. Man betrat unsere Wohnung und stand gleich in der Küche, ging weiter durch diese Küche, und da war das Wohnzimmer, und dahinter noch ein gefangenes Zimmer, das ich selbst mit roten und mit blauen Indianern bewohnte. Da gab es ein Fenster, eine Luke, und dort erschien jetzt Jakob, ein schwarzes, geflügeltes Himmelswesen. Jakob äugte nach links, nach rechts, präsentierte sich in der schwarzen Schönheit und im Glanze seiner Federpracht, bevor er sich die Käserinde schnappte, die ich eben aufs Fensterbrett gelegt hatte. Dann stieß er sich wieder ab und tauchte in die Luft, zog Kreise zwischen den Schornsteinen und den Zinnen einer kleinen Stadt, der vorläufigen Heimat eines kleinen Jungen.
Ich kann mich nicht erinnern, Jakob jemals einen Raben genannt zu haben, Rabe, so bezeichne ich ihn, um einem Erwachsenen das Wesen zu erklären, der nicht verstehen kann, wer dieser Jakob war. So geht es mir bis heute.
Das Kind gibt es nicht mehr, und auch Jakob ist verschwunden, aber es gibt noch den Gedanken an Jakob, und wann immer dieser Mann, der ich nun geworden bin, einen Raben sieht, so denkt er an diesen Jakob, und wann immer dieser Mann einen schwarz gefiederten Kerl sieht, diese verschmitzten, aufmerksamen und tüchtigen Kerle, dann er erinnert er sich an seinen Freund aus Kindheitstagen.
Man wird mir dies als Überzogenheit ankreiden, trotzdem muss ich darauf bestehen: Ohne Jakob hätte ich meine Kindheit nicht überlebt. Jedenfalls nicht diesen bestimmten Teil, was ja für alle folgenden Teil dasselbe bedeutet. Nein, die Existenz unter diesen fürchterlichen Dächern wäre für mich tödlich gewesen.
Jakob hat mir eine Richtung gezeigt, jene in den Himmel nämlich, eine Orientierung, die mir bis heute geblieben ist und die mir jeden Tag die Augen und die Seele heilt, wenn vom Lärm und Schmutz die Niederungen undurchdringlich werden, wenn Staub aufwirbelt und die Luft trübt, durch die Emsigkeit, durch die Geschäftigkeit, durch den Biedersinn, der oft genug einem Raben den Garaus machen will, weil er den lieben Frieden und den gesunden Schlaf und die süße Sonntagsruhe stört. Ein gewisses Leben, oder, besser gesagt, eine gewisse Lebensweise, lässt sich nicht mit der Gegenwart von Raben in Übereinstimmung bringen.
Von Jakob habe ich gelernt, dass die Rinde reicht und man auf den Käse verzichten kann, wenn man den Himmel besitzt.
Wenn der Ziegel den Malermeister erschlagen hätte, dann wären nicht die Raben, die drüben im Wald der Irrenanstalt ihre Horste bewohnen, schuldig an seinem Tod. Es wäre ein bestimmter, unmittelbarer, ein gewisser Rabe. Dieser Gedanke wirkt wie Frevel. Es wären dann als Konsequenz nicht mehr Rehe, die in den Wäldern totgefahren werden, jedes einzelne wäre ein Unfallopfer. Das dürfen wir nicht denken, weil damit die Linie verschwände, hinter der wir unseren Platz behaupten.
Wenn mich eine Zecke beißt und ich sie aus meinem Fleisch drehe, dann hege ich keine Ranküne gegen sie. Ich nehme Frühsommerenzephalitis oder Borreliose nicht persönlich, weil auch hier die nämliche Linie verschwände, mit der wir menschlich von tierisch trennen.
Einen großen Unfug treiben manche mit diesen Adjektiven. Sie bedeuten einmal dies, einmal das andere und beschreiben also nichts. Sie behaupten eine Kategorie, wo nur Chaos ist. Wer findet das Merkmal des Menschen? Wer kennt die Eigenheit der Tiere? Wie könnte ich Jakob ausschließen, von dem ich so viel über meine Menschlichkeit gelernt habe?
Sinngemäß oder gleich im Gegenteil, das eine Mal zum Lob, zur Eitelkeit, das andere Mal zur Scham, zur Schande und so sehr die Wissenschaft dienlich und eine Gaudi ist und wohl fantastische Wirkungen zeigt, so sehr soll man sich hüten, ihr das Urteil über die Wirklichkeit zu überlassen. Die Biologie enthält wenige Hinweise darauf, wie man Ehestreit vermeidet, und man darf doch, falls dieser Einwand kommen sollte, behaupten, dass jede Paarbeziehung so weit biologisch ist, als dass sie nicht ausschließlich bei Menschen vorkommt.
Das Leben und das Zusammenleben: das sind zwei verschiedene Disziplinen.