© Lea Meienberg

Gestern Abend begegnete ich in unserer Straße einem Marder. Er und seine Geschwister sind unbeliebt, weil sie sich in die Motoren schleichen und die Kabel fressen. Gegen Marderschäden kann man sich versichern, und oben an der Tankstelle verkaufen sie den Mardertod. Ich weiß nicht, wie er wirkt, aber das Plakat verspricht, er funktioniere ohne Gift. Marder stinken, soweit ich weiß. Und ich habe von der Menge Dreck gehört, die sie hinterlassen sollen. Aber das sind nur Gerüchte. Persönlich bin ich keinem von ihnen näher als zwanzig Meter gekommen. Auch ich scheine bei den Geschwistern Marder nicht weiter beliebt zu sein.

Mit einem Siebenschläfer die Bekanntschaft zu machen, hatte ich hingegen das Vergnügen. Diesen mausigen Gesellen fand ich eines Morgens in unserem Haus in den Bergen, im Küchenkasten, zwischen den Nüssen. Da saß er mit dicken Backen und glänzenden Augen. Bewegte sich nicht. Schaute mich an. Fraß weiter. Ließ sich nicht stören.

Später las ich über seine Lebensgewohnheiten. Der Siebenschläfer schläft so gut wie immer. Neun von zwölf Monaten ist er nicht wach. Und wer nicht wach ist, kann nicht fressen. Weil die Zeit knapp ist, hält er sich an Nahrung mit hoher Energiedichte. Das macht ihn rasch dick, und das macht ihn wohlschmeckend. Ihr Fett sei aromatisch, so habe ich in einem alten Kochbuch gelesen, wer das wenige Fleisch darin gare, trage von der Speise keinen Schaden davon. Seit den Römerzeiten hält man Siebenschläfer in einem Tontopf, einem sogenannten Glissarium, und füttert sie bis zur Speisereife.

Ich habe den grauen Gnom nicht verzehrt, sondern hinaus in die Wiese vor dem Haus getragen, in einer Pappschachtel, in die ich den Kulinariker nach einigen Versuchen bugsieren konnte.

So überließ ich ihn mit einigen Nüssen zwischen Klee und Löwenzahn seinem Schicksal. 

Am nächsten Morgen saß er im selben Küchenkasten an derselben Stelle und nahm sich gerade die Mandeln vor. So trug ich ihn ein zweites Mal aus dem Haus, diesmal bis weit über den Bach, und seither verblieb von diesem Fresskumpan keine Spur mehr aufzufinden. 

Dieser Fellball verstand mich ausgezeichnet. Er kannte meine Gewohnheiten. Er wusste, wo bei mir die Nüsse lagen. Was unterschied uns? Die Sprache? Sprache als Grund, einen hungrigen Narkoleptiker vor die Tür zu setzen? Sprache als Unterschied?

Raben sind nicht schuldfähig. Sie verstehen den Dreisatz aus Konvention, Konformismus und Sanktion nicht, der die menschliche Gesellschaft bestimmt und formt. Lukas Bärfuss

Aber ich wollte von meinen drei Raben berichten.

Der erste Rabe setzte sich neulich auf das Dach des Nachbarhauses und machte sich mit dem Schnabel am Moos zu schaffen. Dabei lockerte er einen Ziegel, bis dieser sich löste und ins Rutschen kam, die Regenrinne übersprang und vier Stockwerke tief in den Hinterhof fiel. Er zerbarst im Durchgang, den nur einige Momente vorher ein Malermeister passiert hatte, um zu seinen Fensterläden zurückzukehren, die er am Morgen ausgehängt und auf Böcke gelegt hatte, um sie frisch zu streichen. Und wäre er nur ein paar Sekunden früher aus der Pause gekommen, der vermaledeite Ziegel hätte ihn erschlagen. 

Er war in seine Arbeit versunken und begriff nicht, welcher Gefahr er gerade entronnen war. Der Rabe jedoch erschrak vom Lärm und flog davon.

Ich wurde Zeuge dieses Vorfalls. Einen Richter, der dieses Tier verurteilt hätte, hätte niemand finden können, nicht die Witwe und nicht die Kinder dieses armen Malermeisters. Raben sind nicht schuldfähig. Sie verstehen den Dreisatz aus Konvention, Konformismus und Sanktion nicht, der die menschliche Gesellschaft bestimmt und formt. Ein Vogel versteht die Regel nicht, er wüsste nicht, wie er sich daran halten sollte, und eine Sanktion wäre für ihn nicht mit der Tat in Verbindung zu bringen. Der Rabe bleibt straffrei, weil er ohne Absicht handelt. Er will keinen Malermeister töten, aus keinen uns bekannten Gründen, nicht aus Eifersucht, nicht aus Rache, selbst wenn unser Malermeister auf seinem Grundstück eine Platane hätte fällen lassen, auf dem seit Generationen die Familie dieses Raben ihre Nester gebaut und den Nachwuchs aufgezogen hatte.

Nachtragend seien Tiere, so erzählen wir uns, nicht, ihre Aggression betreffe keinen anderen Wert als die Sicherung des Überlebens. Einem nichtmenschlichen Organismus eine Empfindung wie Genugtuung zuzuschreiben, erscheint der Vernunft absurd, jedenfalls der erwachsenen Vernunft. Ein Kind besitzt zu Tieren und zu Pflanzen und zum Regen und zum Wind ein anderes Verhältnis.

Unter adulten Menschen haben Raben einen schlechten Ruf, sie gelten als schmutzig, sie machen Lärm, und tatsächlich finden sich selten Fürsprecher, wenn Raben vergrämt oder getötet werden sollen. Man muss nicht einmal die alten volkstümlichen Vorstellungen bemühen, das heißt, ich muss nicht einmal aufstehen, um im Bücherregal das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens zu bemühen, um das Miasma des Unglücks zu beschwören, das Rabenvögel seit jeher umgibt. Bei den Germanen wohl, wenn ich mich richtig erinnere, war es Gottesgeflügel. Gleichgültig, das darf man sagen, sind uns Raben nie gewesen. Immer wieder erwacht auch die Mordlust. Ein Rabe hat sich vorzusehen, wenn ein Mensch in seine Nähe kommt.

Das gilt auch für den zweiten Raben, von dem hier die Rede sein soll.

Wer findet das Merkmal des Menschen? Wer kennt die Eigenheit der Tiere? Lukas Bärfuss

Bevor ich ihm begegnete, hatte ich einiges von ihm gehört. Er war bekannt im Viertel. Wer mir von ihm erzählte, weiß ich nicht mehr, aber ich erfuhr eines Tages, dass beim neuen Gymnasium ein verrückter Vogel lebe, der jeden angreife, der sein Territorium betrete. Das weckte meine Neugier. Das wollte ich sehen.

Kurz nach Mittag an einem Mittwoch, es muss gegen halb zwei Uhr gegangen sein, fand ich mich also vor dem Gymnasium ein. Zu sehen war niemand. Der Kiesgarten lag im kühlen Frühlingssonnenschein. Es gab einen Teich, etwas Schilf, junge Bäume, deren Stämme noch in Sackleinen gepackt waren und von Schwirren gehalten wurden. Das rote Gebäude dahinter, modern, hässlich, wichtig. Hier also sollte der Dämon leben.

War mir mulmig? Allerdings.
Hatte ich Angst?
Nein, ich war in Panik.

Aber umkehren war für einen Jungen von vierzehn Jahren keine Möglichkeit. Da hätte es etwa einen Dobermann gebraucht. Oder einen Hauswart mit einer Flinte. Ein Monster. Keinen Raben. 

Ich schaute mich um. Nichts zu sehen. Es war still. War das nur dummes Gerede und ich wie ein Idiot darauf hereingefallen? Hier gab es keine Vögel. Es gab hier keinen bösen Raben.

Da querte auf einmal ein schwarzer Wicht den Kies, flink, geduckt und unfreundlich. Nach drei Scheinattacken und einer gekonnten Finte stieß er seinen Schnabel auf meinen rechten Fuß, gezielt, beherrscht, böse. Nur mein Schuh bewahrte mich vor einer schmerzhaften und tiefen Wunde. 

Ich wich zurück, der gefiederte Dämon verfolgte mich, noch einen Schritt zurück und noch eine Attacke, ich stolperte aus dem Garten, knapp am Weiher vorbei, ich gab Fersengeld, bis wohl hinüber zum Kanal, zum Stadion – da war ich gerettet und in Sicherheit.

Er ist der einzige Vogel geblieben, der mich je angegriffen hat. Ich kann diese Erfahrung nicht verallgemeinern. Schon damals nahm ich an, dass dieser Rabe einen Schaden hatte und in seinem Kopf nicht richtig war. Ich wusste aus einem Buch, wie Vögel im frühen Alter eine Fehlprägung erleiden und etwa Hühnerküken einen fiependen Fußball als Mutter annehmen konnten. Dieser Vogel musste in ähnlicher Weise einen Knacks erlitten haben. Aber warum die Füße? Warum nicht auf den Kopf zielen, wenn man einen wie mich ernsthaft vertreiben wollte? Doch was, wenn er mich eben nicht verletzen, sondern nur vertreiben wollte? Dann wäre sein Verhalten verhältnismäßig und damit vernünftig gewesen.

Auch dieser Rabe wusste nichts von meinen Konventionen, von meinen Regeln, er fluchte nicht, er schimpfte nicht, er argumentierte nicht, aber ich kann trotzdem nicht behaupten, dass er mich nicht verstand. Es war nicht unvernünftig, einen halbwüchsigen Naseweis hinter seine Grenzen zu verweisen. Dies war des Raben Garten. Ich hatte es gewusst und eins auf die Finger, nein, auf die Füße bekommen.

Erwachsene brauchen keine Raben, sie können auf diese Vögel verzichten. Auch wenn mittlerweile auch die Großen begreifen, oder zu begreifen vorgeben, wie sehr jedes Tier und jede Pflanze Teil eines Gleichgewichtes ist. Man nennt es natürlich, aber das bedeutet nicht, dass Erwachsene daraus ein Lebensrecht ableiten. Es braucht Raben als Ganzes, aber diesen einzelnen Raben braucht es nicht.

Die ornithologischen Handbücher verzichten deshalb auf Fotografien, weil diesen natürlich Individuen abbilden, den Einzelfall, also zum Beispiel Jakob, nicht das Allgemeine, und das Spezielle muss natürlich ausgeblendet werden, damit der Mensch eine Kategorie bilden kann. Das erfuhr ich vor einige Tagen im einzigartigen Delta der Verzasca. Da stieß ich hinter einigen Silberweiden auf zwei Vogelkundler, jeder ausgerüstet mit einem phänomenalen Fernrohr auf Stativ. Durch dieses beobachteten sie die Piepmatze vor ihnen im Schilfgürtel. 

Da drüben ist ein Seidenreiher, meinte der eine. Er sitzt auf dem Stück Totholz vor der Halbinsel.

Und gleich daneben ist ein Silberreiher, murmelte der andere.

Dann schwiegen sie wieder und kategorisierten weiter. Sie sahen viele Arten, ein Tier hingegen sahen sie nicht.

Raben werden als Gruppe anerkannt, als Art, aber auf diesen einen, diesen besonderen Raben, der mich gerade stört, auf den mag ich gerne verzichten. Es gibt nur den Plural, und wie groß dieser Plural ist, entscheidet das Prinzip der konkreten Umstände.

Für mich ist es gerade umgekehrt. Mit Raben habe ich nichts am Hut. Sie sind mir auf eine ganz besondere Art schnurzpiepegal. Auf einen ganz bestimmten Raben hingegen kann ich nicht verzichten. Das soll hier der dritte sein.

Ich kann mich nicht erinnern, Jakob jemals einen Raben genannt zu haben, Rabe, so bezeichne ich ihn, um einem Erwachsenen das Wesen zu erklären, der nicht verstehen kann, wer dieser Jakob war. Lukas Bärfuss

Er lebte auf einem anderen Dach, in einer anderen Stadt, in einer anderen Zeit, in meiner Kindheit, hoch über dem Fluss, zuoberst über einer Gasse in der Altstadt, wo ich mit meiner Mutter lebte und wo der Vater noch, bevor er endgültig verschwand, bisweilen auftauchte. Man betrat unsere Wohnung und stand gleich in der Küche, ging weiter durch diese Küche, und da war das Wohnzimmer, und dahinter noch ein gefangenes Zimmer, das ich selbst mit roten und mit blauen Indianern bewohnte. Da gab es ein Fenster, eine Luke, und dort erschien jetzt Jakob, ein schwarzes, geflügeltes Himmelswesen. Jakob äugte nach links, nach rechts, präsentierte sich in der schwarzen Schönheit und im Glanze seiner Federpracht, bevor er sich die Käserinde schnappte, die ich eben aufs Fensterbrett gelegt hatte. Dann stieß er sich wieder ab und tauchte in die Luft, zog Kreise zwischen den Schornsteinen und den Zinnen einer kleinen Stadt, der vorläufigen Heimat eines kleinen Jungen.

Ich kann mich nicht erinnern, Jakob jemals einen Raben genannt zu haben, Rabe, so bezeichne ich ihn, um einem Erwachsenen das Wesen zu erklären, der nicht verstehen kann, wer dieser Jakob war. So geht es mir bis heute. 

Das Kind gibt es nicht mehr, und auch Jakob ist verschwunden, aber es gibt noch den Gedanken an Jakob, und wann immer dieser Mann, der ich nun geworden bin, einen Raben sieht, so denkt er an diesen Jakob, und wann immer dieser Mann einen schwarz gefiederten Kerl sieht, diese verschmitzten, aufmerksamen und tüchtigen Kerle, dann er erinnert er sich an seinen Freund aus Kindheitstagen. 

Man wird mir dies als Überzogenheit ankreiden, trotzdem muss ich darauf bestehen: Ohne Jakob hätte ich meine Kindheit nicht überlebt. Jedenfalls nicht diesen bestimmten Teil, was ja für alle folgenden Teil dasselbe bedeutet. Nein, die Existenz unter diesen fürchterlichen Dächern wäre für mich tödlich gewesen.

Jakob hat mir eine Richtung gezeigt, jene in den Himmel nämlich, eine Orientierung, die mir bis heute geblieben ist und die mir jeden Tag die Augen und die Seele heilt, wenn vom Lärm und Schmutz die Niederungen undurchdringlich werden, wenn Staub aufwirbelt und die Luft trübt, durch die Emsigkeit, durch die Geschäftigkeit, durch den Biedersinn, der oft genug einem Raben den Garaus machen will, weil er den lieben Frieden und den gesunden Schlaf und die süße Sonntagsruhe stört. Ein gewisses Leben, oder, besser gesagt, eine gewisse Lebensweise, lässt sich nicht mit der Gegenwart von Raben in Übereinstimmung bringen.

Von Jakob habe ich gelernt, dass die Rinde reicht und man auf den Käse verzichten kann, wenn man den Himmel besitzt.

Wenn der Ziegel den Malermeister erschlagen hätte, dann wären nicht die Raben, die drüben im Wald der Irrenanstalt ihre Horste bewohnen, schuldig an seinem Tod. Es wäre ein bestimmter, unmittelbarer, ein gewisser Rabe. Dieser Gedanke wirkt wie Frevel. Es wären dann als Konsequenz nicht mehr Rehe, die in den Wäldern totgefahren werden, jedes einzelne wäre ein Unfallopfer. Das dürfen wir nicht denken, weil damit die Linie verschwände, hinter der wir unseren Platz behaupten.

Wenn mich eine Zecke beißt und ich sie aus meinem Fleisch drehe, dann hege ich keine Ranküne gegen sie. Ich nehme Frühsommerenzephalitis oder Borreliose nicht persönlich, weil auch hier die nämliche Linie verschwände, mit der wir menschlich von tierisch trennen.

Einen großen Unfug treiben manche mit diesen Adjektiven. Sie bedeuten einmal dies, einmal das andere und beschreiben also nichts. Sie behaupten eine Kategorie, wo nur Chaos ist. Wer findet das Merkmal des Menschen? Wer kennt die Eigenheit der Tiere? Wie könnte ich Jakob ausschließen, von dem ich so viel über meine Menschlichkeit gelernt habe?

Sinngemäß oder gleich im Gegenteil, das eine Mal zum Lob, zur Eitelkeit, das andere Mal zur Scham, zur Schande und so sehr die Wissenschaft dienlich und eine Gaudi ist und wohl fantastische Wirkungen zeigt, so sehr soll man sich hüten, ihr das Urteil über die Wirklichkeit zu überlassen. Die Biologie enthält wenige Hinweise darauf, wie man Ehestreit vermeidet, und man darf doch, falls dieser Einwand kommen sollte, behaupten, dass jede Paarbeziehung so weit biologisch ist, als dass sie nicht ausschließlich bei Menschen vorkommt. 

Das Leben und das Zusammenleben: das sind zwei verschiedene Disziplinen. 

Das Leben und das Zusammenleben: das sind zwei verschiedene Disziplinen. Lukas Bärfuss

Was können wir von einem Raben lernen? Gewiss einiges mehr als von den Raben als Gattung oder Art. Ich müsste dann nämlich jeden Menschen mit jedem Raben vergleichen - wer sollte dazu im Stande sein?

Menschen töten andere Menschen, die mit derselben Sprache begabt sind. Nur Wesen, die unsere Sprache sprechen, können Teil unserer Geschichte werden - einerlei, ob wir sie umbringen oder nicht. Einen Raben habe ich noch nie verspiesen - nicht als Satay und nicht à l’orange.

Was unterscheidet eine neukaledonische Krähe von einer Saatkrähe? Es ist der Gebrauch von Werkzeug. Sind die Neukaledonischen deswegen beliebter?

Serienmörder, so hörte ich einst, beginnen ihr Werk mit Tieren. Die Befriedung des Menschen bleibt die Aufgabe, auch meine, übrigens. Ich habe zu viel Leben vernichtet, und ich vernichte immer noch zu viel Leben. Meine Nachbarn sind nicht besser. In diesem Massaker stehen wir uns in nichts nach. Einen Raben habe ich nicht auf dem Gewissen.

Fabeln sind seltene Lehrstücke. Der durstige Rabe wirft Kiesel in den halbleeren Krug, bis das Wasser bis zum Rand steht, und lehrt so Ausdauer und Verstand.

Es könnten Menschen kommen, die Kinder unserer Kindeskinder, die tausend Raben begegnet sind und tausend Fabeln kennen und sich für die tausend Neuigkeiten begeistern, die aus dem Vogelreich bekannt werden.

Unter Wanderfalken gibt es schon heute einige Prominente. So weiß man von einem Weibchen an einem Kirchturm in Feucht bei Nürnberg. Es hat eine eigene Show auf YouTube. Im April dieses Jahres brachte es seiner Brut einen Eichelhäher und rupfte ihn vor laufender Kamera.

Die Liebsten unseres Malermeisters müssten dem Raben einen Namen geben. Er wäre vor allen Raben ausgezeichnet und würde Teil der Geschichte, so wie auch alle Pferde, die einen Feldherrn oder einen Boten in den Graben zu Tode warfen, Teil der Geschichte wurden.

Warum soll ich den Raben ausschließen? Warum gilt für ihn der Begriff der Verantwortung nicht? Warum gilt für ihn nicht Rücksicht, warum gilt für ihn nicht Güte? Warum dürfen wir ihn vergrämen? Weil er selbst in anderen Bereichen denkt? Möchten wir vertrieben werden, nur weil wir nicht fliegen können?

Über Raben im Allgemeinen weiß ich nichts zu sagen. So weiß ich nicht, welchen Platz Käserinde auf der Speisekarte der Raben einnimmt.

Von Jakob kann ich bezeugen: Er verschmähte diese Rinde nicht. Meine Mutter bevorzugte milden Käse, übrigens, St. Paulin hieß die Sorte, die sie mir und dessen weiche Rinde ich Jakob vorsetzte.

Eine mitteleuropäische Schwarzfeder, dazu ein ordentlicher Schnabel, mit dem er an jede Nahrung kam. Schwarz. Nur Schwarz. In den schwarzen Augen leuchtete die Sonne silbern als Punkt.  Von diesem Tier, von diesem Wesen spreche ich. Falls jemand etwas von Jakob gehört hat, soll er sich bei mir melden.
 

LUKAS BÄRFUSS, geboren 1971 in Thun (Schweiz), Dramatiker, Romancier, Essayist, ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, unter anderem dem Georg-Büchner-Preis 2019, ist Kurator und Gastgeber der diesjährigen Literatur- und Dialogreihe Die Natur des Menschen. Sie stellt sich die Frage stellt, mit welchem Begriff der Natur wir in unseren gegenwärtigen Diskussionen eigentlich operieren.