Vor 365 Tagen, in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 stand Angela Merkel vor einer der wichtigsten Entscheidungen ihrer Kanzlerschaft. Sie entschied, die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge in einer humanitären Ausnahmesituation nach Deutschland einreisen zu lassen. Wir haben die historischen Tage rund um den 4. September womöglich alle verfolgt. Die Bilder von den Menschen, die sich vom Budapester Ostbahnhof auf den Weg machten, buchstäblich auf der Autobahn, Richtung ungarisch-österreichische Grenze, sind uns noch präsent. Diese Bilder haben das vergangene Jahr genauso geprägt wie das Bild vom dreijährigen toten Jungen Aylan am Strand nahe Bodrum.
Wir wissen, dass zu diesem Zeitpunkt um den 4. September herum etwa 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht waren und viele noch sind. Im Kampf ums Überleben auf dem Mittelmeer und andernorts. Auf der Flucht vor dem Tod, vor Fassbomben, vor Verfolgung, Hinrichtung und Vergewaltigung. In der großen Hoffnung, in den Städten westlicher Wohlstandsstaaten Zuflucht zu erhalten.
Vor 247 Tagen ereigneten sich dann die Vorfälle in Köln, und seither ist kein einziger Tag vergangen ohne die immer gleiche Debatte um die Frage: War Merkels Entscheidung richtig oder falsch?
Seither haben wir aufwändig versucht, die Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, zu kategorisieren. Sind das überwiegend junge Männer? Sind das eigentlich nur Muslime? Sind das alles Ingenieure und Ärzte, die praktischerweise unseren Fachkräftemangel aufheben? Oder doch eher Terroristen? Machos? Undankbares Volk? Warum haben die alle Smartphones? Unterdrücken die ihre Frauen? Geben sie Frauen überhaupt die Hand? Sind sie bereit, sich anzupassen, die Deutsche Sprache zu lernen und zu akzeptieren, dass sich hier auch zwei Männer auf der Straße einen Zungenkuss geben?
„Habt ihr gehört, neulich war ein Flüchtlingsjunge im Schwimmbad ohne Badehose!“ „Ach echt? Wie furchtbar!“ „Ich habe neulich auch von einer Frau am Wannsee gehört, die mit langer Hose ins Wasser gegangen ist!“
Vielleicht kennen Sie diese Gespräche auch. Gespräche, die eigentümlich changieren zwischen großer Angst und hemmungsloser Hoffnung. Seit einem Jahr wird rauf und runter diskutiert in Talkshows, politischen Statements, am Stammtisch und in der Kneipe über die Frage, wie diese Menschen wohl sind und was sie hier machen werden.
„Vom Mut, keine Angst zu haben“ – Rede von Esra Küçük beim ZEIT Forum Kultur
07. Sep. 2016
Vom Mut, keine Angst zu haben
Von Esra Küçük
Perspektivwechsel
Als ich von den Kollegen von der Ruhrtriennale und der ZEIT gefragt worden bin, ob ich hier heute sprechen möchte, habe ich mir gedacht, dass ich in meiner Rede bewusst die Perspektive umdrehen möchte. Nicht von „denen“ sprechen, sondern die Frage nach uns stellen möchte. Wie wir vor dem Hintergrund dieser Entscheidung unser Land verändert haben. Wie wir mit dieser Veränderung umgegangen sind und was unser Umgang mit dieser Thematik über uns aussagt. Als Einzelpersonen. Und als Kollektiv. Wie einige aus Angst vor Fremden bereit sind, ihre Freiheiten einzuschränken. Freiheit gegen vermeintliche Sicherheit einzutauschen. Die Werte, die uns gut und teuer sind, bereitwillig über Bord zu werfen. So erklärt sich auch der ursprüngliche Titel meiner Rede: „Freiheit verspielt, Angst gewonnen – wie sich Europa in der Flüchtlingsfrage selbst abschafft“.
Aber ich habe mich dagegen entschieden, diese Rede zu halten.
Normalerweise hätte ich Ihnen erzählen wollen, dass ich beobachte, dass wir uns so sehr damit beschäftigen, den „Anderen“, „den Neuen“, „den Eindringling“ zu analysieren, und damit beschäftigt sind, ihm Verbote aufzuerlegen, und darüber aus dem Blick verloren haben, uns selbst die Frage zu stellen, welche Gesellschaft wir eigentlich sein wollen.
Ich hätte die Frage gestellt, ob es zu unserem europäischen Selbstbild passt, dass die Antwort auf Migration in dem Bau von Grenzzäunen liegt? Ich hätte die Frage gestellt, ob es den Befürwortern dieser Strategien bewusst ist, dass die Zäune uns einschließen und einzwängen, uns die Freiheit nehmen? Denn schließlich ist das Innen immer kleiner als das Außen.
Wenn ich diese Rede gehalten hätte, dann hätte ich sarkastische Anmerkungen zur AfD gemacht. Und natürlich wäre das aktuell diskutierte Burkaverbot ein Beispiel par excellence gewesen, das ich herangezogen hätte, um meinen Standpunkt zu illustrieren. Ich hätte Ihnen erzählt, dass ich es nicht verstehen kann, warum wir jetzt Frauen vorschreiben wollen, wie sie sich anzuziehen haben. Vor etwa 50 Jahren haben Polizisten die Strandbekleidung von Frauen abgemessen, um sicherzustellen, dass sie nicht zu viel Haut zeigen. Jetzt wiederholt sich eine ähnliche Situation in Frankreich, nur andersherum. Frauen müssen mehr Haut zeigen. Dahinter steckt das neue Gesetz, das Burkinis verbieten soll, da sie nicht gute Moral und Säkularismus zeigen, wie es in der französischen Presse dazu heißt. Das hat zu absurden Situationen an der Côte d’Azur geführt. In Nizza wurde eine Frau von der Polizei aufgefordert, sich auszuziehen. Die umstehenden Touristen sollen geklatscht und applaudiert und der Frau zugerufen haben: „Geh doch nach Hause!“ Ihre kleine Tochter soll angefangen haben zu weinen.
In dieser anderen Rede hätte ich ihnen diesen Fall geschildert und Sie gefragt, ob wir unsere Demokratie, unsere Werte wirklich mit Kleidungsvorschriften und Sittenpolizei verteidigen wollen? Den Wert, am Strand unbekleidet sein zu müssen, den kannte ich bisher noch gar nicht. Unter dem Deckmantel des vermeintlichen Feminismus wird Rassismus auch nicht attraktiver. Und, um die Absurdität dieser Debatte noch zu erhöhen, habe ich gerade sogar einen Artikel gelesen, in dem Hautkrebsspezialisten dieses Kleidungsstück loben.
Ich hätte ermahnend gesagt, dass die Zeiten, in denen ein Stück Stoff ausreicht, um ein Urteil zu fällen, doch eigentlich hinter uns liegen sollten. Wenn der Staat gegen eine Gruppe von Menschen aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Andersartigkeit vorgeht, dauert es erfahrungsgemäß nicht lange, bis sich andere ermutigt fühlen, ihrem Unmut freien Lauf zu lassen. Wo das endet, konnte man schon in der Französischen Revolution sehen.
Ich hätte die Frage gestellt: Warum wir versuchen, unsere Gruppenidentität in Abgrenzung zu Anderen zu formulieren? Ich hätte von einer aggressiven Suche nach der einen Identität und der einen Heimat, die so nur über Ausschluss und Abgrenzung konstruiert werden kann, erzählt und sozialwissenschaftliche Untersuchungen zitiert, Ihnen von Konzepten wie Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit erzählt. Ich hätte Ihnen erzählt, warum im Titel meiner Rede eine Anspielung auf das Buch von Thilo Sarrazin zu finden ist.
In diesem Ansatz, den ich zuerst verfolgen wollte, hätte ich es mir natürlich nicht nehmen lassen, auf Diskriminierung in unserer Gesellschaft hinzuweisen. Ich hätte dem Ganzen eine persönliche Note gegeben und erzählt, wie es sich anfühlt, wenn man immer doppelt so viel leisten muss, um das Gleiche zu erreichen. Und wie ich heute hier nicht stehen würde, wenn ... Ich hätte mein Leben als Zeugen aufgerufen, um anzuklagen, um zu mahnen.
Aber wie gesagt, diese Rede halte ich heute nicht. Denn mit dieser Rede hätte ich auf die kollektiven Ängste der sogenannten Mehrheitsgesellschaft bloß mit meiner persönlichen Wut reagiert. Ich und eine Reihe von anderen Frauen und Männern sind seit vielen Jahren damit beschäftigt, das immer wieder zu tun. Laut, öffentlich und mittlerweile meist vorhersehbar auf diese Diskurse zu reagieren.
Es kommen Debatten auf, die Menschen aufgrund ihres Glauben oder ihrer Herkunft oder was auch immer in Frage stellen, sie aus dem Kollektiv heraus denken und wir – wir reagieren darauf. Wir versuchen, kollektiven Pauschalisierungen mit differenzierten Argumenten zu entgegnen. Denn wir haben nicht das Privileg, dass uns diese Debatten einfach egal sein könnten. Wir haben nicht das Privileg, eine AfD ignorieren zu können. Deshalb argumentieren wir und argumentieren und argumentieren.
Wir spielen diese Rolle im Behauptungszirkus unserer Republik. Dabei sind wir Statisten unserer persönlichen Betroffenheit. Deshalb werde ich heute nicht die professionelle Besserwisser-Migrantin sein.
Über die Rede, die ich nicht halten werde, habe ich verstanden, dass ich, wenn ich mit dieser Besserwisser-Mentalität mit erhobenen Zeigefinger all diese mir absurd erscheinenden Debatten kommentiere, mich gemein mache mit diesen Angst- und Wutbürgern, indem ich Ihnen mit Wut entgegne und damit die Debattenkultur, in der wir feststecken, immer mehr befeuere und die Negativ-Spirale weiter spinne. Auch wenn ich die angeführten Argumente, die ich hervorgebracht hätte, für richtig halte und auch manchmal gerne die Besserwisser-Migrantin bin, aber wer bin ich, um Ihnen und Euch mit gehobenen Zeigefinger vorzuwerfen, so neunmal klug daher zu kommen und Ihnen und Euch zu sagen, was alles falsch läuft in diesem Land.
Seit einiger Zeit stoße ich immer wieder an diesen Punkt, da mir das Mahnen missfällt. Trotz der Zeit in der es so viel zu mahnen gäbe. Ob Brexit, ob Donald Trump, ob Zerstörung von lang umkämpfter Demokratie in der Türkei, ob Rechtsruck in Frankreich und die Gefahr, Marine Le Pen im kommenden Jahr als Präsidentin eines Landes zu haben, auf das die Werte Liberté, Égalité, Fraternité zurück gehen, und gerade heute am Tag der Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern, wo die AfD nach den letzten Hochrechnungen bei 21 Prozent liegt. Es gäbe also viel Grund zu schimpfen und zu mahnen, aber ich habe das Gefühl, dass man sich damit zum nützlichen Diener der Nörgler und Ewig-Gestrigen macht, dass man damit die vergiftete Debattenkultur weiter anfeuert. Weiter Angst stiftet anstatt Mut. Angst mit Wut und nicht mit Mut begegnet. Wir haben erst jüngst beim Brexit beobachten können, was passiert, wenn wir Angst mit Wut begegnen.
Deshalb habe ich meiner Rede einen neuen Titel geben: „Vom Mut, keine Angst zu haben“.
Wie aus Komplexität Unverständnis, dann Angst und Wut wird
Schon lange wird gesagt, die Welt sei unübersichtlicher geworden. Komplexer. Die Spannungslinien und Konflikte verlaufen nicht mehr entlang der alt bewährten Trennungslinien „rechts“ versus „links“, Migrant versus Nicht-Migrant, „unten“ versus „oben“. Die Konfliktlinien, wie wir sie kannten, lösen sich mehr und mehr auf. Es wird schwieriger, die Gegensätze zu erkennen. Noch vor ein, zwei Jahren hätte ich gesagt, die Menschen, die sich abgehängt fühlen, die nur noch poltern und ihren Unmut im Internet verbreiten, die verstehen halt die neuen Megatrends, die durch Globalisierung und Digitalisierung entstehen, nicht mehr. Aber das reicht als Erklärung nicht mehr aus. Ich muss sagen, besonders in den letzten zwölf Monaten habe ich selbst auch immer öfter gedacht: Verdammt, ich verstehe viele Dinge, die um uns herum passieren, auch nicht mehr.
Plötzlich wollen linksliberale Intellektuelle die Doppelte Staatsbürgerschaft rückgängig machen. Plötzlich können Migranten auch Nazis sein und durch ein Münchner Einkaufzentrum laufen, um Türken zu ermorden. Plötzlich setzt sich eine konservative Klientel für Geflüchtete ein. Der Domprost in Köln schaltet die Lichter aus, wenn Pegida in Dresden demonstriert. Meine Oma fängt an zu fluchen, wenn sie Frauen mit Kopftuch auf der Straße begegnet (und sie kann fluchen, meine Oma). Mein türkischer Taxifahrer hat Angst, dass Flüchtlinge ihm die Arbeit wegnehmen. Meine feministische Nachbarin trägt Kopftuch und abonniert das Missy Magazin. Die konservative Vorstadtfamilie schmiert Stullen für Geflüchtete am Bahnhof. Konservative Unternehmensverbände setzen sich für ein Abschiebeverbot bei Geflüchteten in Ausbildung ein.
Wir merken, wir kommen an Kommunikation- und Verständnisgrenzen. Wir merken, ein Migrationshintergrund trifft noch keine Aussage über die Haltung einer Person gegenüber einer pluralen Gesellschaft, weder im positiven noch im negativen Sinn. Dennoch ordnen wir uns, um den Überblick zu behalten, in die alt bewährten Schubladen ein. Links – rechts, konservativ – linksliberal, Migrant – Nicht-Migrant, hetero – homo. Es entsteht eine immer stärker polarisierte Diskussionskultur. Dabei findet keine wirkliche Kommunikation statt, obwohl wir ständig reden. Jeder baut sich seine „Bubble“, seine Blase. Zerfaserte Stämme aus zerfaserten Lebensgewohnheiten. Die Kommunikationsgrenzen führen zu Erklärungsgrenzen. Und wenn wir etwas nicht erklären, nicht verstehen können – das ist Küchenpsychologie –, dann reagieren einige mit Unverständnis, Angst und irgendwann mit Wut.
Haltung satt Herkunft – Vom Umgang mit Differenz
Ich beobachte, dass sich neue Achsen bilden entlang derer, die Angst haben, und denjenigen, die Mut haben. Ich habe den Eindruck, dass die entscheidende Konfliktlinie zunehmend entlang einer Haltung zur offenen Gesellschaft gegenüber verhandelt wird. Ich habe den Eindruck, dass ein Dualismus zwischen Migrationsbefürwortern und -gegnern die politische Agenda dominiert. So stehen plötzlich der Domprobst und meine feministische Nachbarin mit Kopftuch auf derselben Seite. Das neue Paradigma, das ich spüre, trägt den Namen „Haltung statt Herkunft“.
Die neue Fremdheit ist keine der Herkunft mehr. Es geht mehr um Haltungen gegenüber Werten wie Freiheit, Gleichwertigkeit, Solidarität und Brüderlichkeit.
Deshalb stehe ich heute auch nicht als eine von 16 Millionen Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund in Deutschland vor Ihnen oder als eine von vier Millionen Muslimen oder als jemand aus einer Familie mit Fluchtgeschichte. Sondern als jemand mit einer gewissen Haltung, über die wir diskutieren können. Gleichzeitig ist es irrelevant, ob Sie, die sie mir gerade zuhören, aus einer christlichen, konservativen, atheistischen, west- oder ostdeutschen Sozialisierung kommen. Allein entscheidend in dieser Sache ist, welche Haltung, jeder einzelne zu den Werten einer offenen Gesellschaft einnimmt. Deshalb braucht auch meine feministische Nachbarin mit dem Kopftuch keinen Integrationskurs. Sondern vielmehr die Männer und Frauen, die in Freital vor diesem Bus standen und ihre menschenverachtenden Parolen von sich gaben. Meine Nachbarin und der Domprobst nehmen hier die gleiche Haltung ein. Ihnen gegenüber stehen die rechtspopulistischen und salafistischen Strömungen, die ein geschlossenes Gesellschaftsbild propagieren.
Die Spaltung der Gesellschaft und die Volatilität der Mitte, die unsicher ist und in beide Seiten mobilisierbar sein könnte, verursacht Unsicherheiten, und es entsteht eine Situation, die ich versucht habe, mit dem „Angst versus Mut“-Paradigma zu beschreiben. Sie äußert sich in Pessimismus versus Optimismus. Und dieser zutiefst ambivalente menschliche Gefühlsgegensatz aggregiert sich durch alle Schichten, Geschlechter und Herkünfte, durch die Institutionen der Gesellschaft, und er kondensiert im Demokratieverständnis.
Ich glaube, all diese Kultur- und Integrationsthemen sind Nebenwidersprüche. Es geht nicht darum, dass wir wirklich Angst davor haben, dass Türkisch oder Arabisch neue deutsche Amtssprachen werden. Oder dass es bald keinen Christstollen mehr auf dem Weihnachtsmarkt geben wird.
Wir haben Angst davor, den Kuchen aufzuteilen, etwas abzugeben. Es geht hier um Verteilungskämpfe zwischen Alteingesessenen und Neuangekommenen. Es geht um die Bereitschaft, Neuangekommenen die gleiche Anerkennung, Teilhabe und die gleichen Partizipationsrechte zu gewähren. Das meine ich mit Kuchen-Aufteilen. Und das hat mit dem individuellen Demokratieverständnis zu tun.
Ich habe den Eindruck, ein Teil der Gesellschaft sagt „Demokratie“ und versteht darunter „gleiche Rechte für alle“. Andere Teile der Gesellschaft sprechen jedoch von Demokratie und meinen „mehr Rechte für die eigene Gruppe“ – die sie vorrangig national oder kulturell definieren.
Jeder, der schon einmal in einer Wohngemeinschaft gelebt hat, kennt das Gefühl: Auch wenn jeder den gleichen Mietanteil zahlt, geht man als Alteingesessener davon aus, dass man gewisse Rechte beansprucht, da man schon länger da war.
Ich glaube, genau hier geht es ums Eingemachte. Die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan zeigt das in ihren Studien. Ein Teil der Gesellschaft ist gegen die Emanzipation und den Aufstieg von Minderheiten. Auf der anderen Seite erkämpfen sich Minderheiten politische Rechte und Positionen, fordern sichtbare Repräsentation ein. Antidiskriminierungsrichtlinien und Diversity-Konzepte werden verabschiedet. Gleichzeitig erstarkt eine Gegenbewegung. Rassistische Positionen werden offen artikuliert, Sagbarkeitsgrenzen als Political Correctness diffamiert und aktiv überschritten: Je mehr Positionen bzw. Sichtbarkeiten Zuwanderer (oder als solche Wahrgenommene und ihre Nachkommen, aber auch andere Minderheiten wie z.B. Homosexuelle) einklagen und auch erlangen, desto stärker wachsen diese Abwehrreaktionen – oder besser gesagt, desto sichtbarer werden sie.
Fragen nach nationaler Identität, Zugehörigkeiten, Privilegien und Repräsentationen – als Chiffre für die Definition von Hegemonialmacht – werden dadurch neu gestellt. Und das ist unbequem und nicht einfach.
Ich weiß, „Demokratie ist nie bequem, ist immer ein Ringen“. Sie ist nach wie vor eine Utopie, ein anstrengendes Unterwegssein.
Wenn ich manche von Freiheit reden höre, dann ist selten die Freiheit im aufklärerischen Sinne gemeint als Freiheit des Andersdenkenden, Andersgläubigen, Andersaussehenden, Andersliebenden, sondern meist die Willkür der Mehrheit. Nicht die Würde aller ist unantastbar, sondern nur die Würde mancher. Der Umgang mit der aktuellen Migration nach Europa erweist sich plötzlich als Gradmesser dafür, ob wir wirklich das sind, was wir vorhatten zu sein. Denn Demokratie heißt doch nicht nur Gewaltenteilung, freie und gleiche und geheime Wahlen, sondern Demokratie zeichnet sich auch durch Mehrheitsherrschaft mit Minderheitenrechten aus. Die Rolle, die man Minderheiten zuweist, sagt mehr über die Demokratie aus als über die Minderheit.
Ich möchte nicht missverstanden werden: Es geht mir nicht darum, naiven Multikulturalismus zu predigen. Ich meine all dies, was ich sage, im Sinne von Theodor Heuss‘ Diktum, dass Demokratie eine anstrengende Sache ist und kritische Menschen braucht.
Demokratie und die viel und oft beschworene Freiheit sind kein Besitz, kein Eigentum, kein Privileg, das man erreichen oder erlangen kann. Das Grundgesetz erzählt von dieser Fragilität. Aber zum ersten Mal in meinem Leben spüre ich diese Fragilität ganz konkret. Es hat den Anschein, als ob Kräfteverhältnisse neu justiert werden.
Navid Kermani legte den Finger hellseherisch in die Wunde, als er zur Feierstunde zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes von der „Verstümmelung“ des Grundgesetzes sprach, weil er konsequent ein größeres, ein mutigeres und nebenher ein unvermeidliches Wir forderte. Eine Forderung, die bis heute am ehesten von einer konservativen Bundeskanzlerin mit einem einfachen Satz beantwortet wurde: „Wir schaffen das!“ Von einer Bundeskanzlerin, die sich zur Hüterin erkoren hat, den Geist des Grundgesetzes zu verteidigen. Und die damit vielleicht – die Geschichte wird urteilen – einige noch Fremde zu zukünftigen Verfassungspatrioten gemacht hat.
Meine Damen und Herren, verzeihen Sie mir, dass es jetzt ein wenig pathosgeladen wird, aber ich muss zugeben, dass dieser Satz von Angela Merkel und besonders die vielen weiteren mutigen Menschen in den letzten zwölf Monaten mich mit diesem Deutschland, das meinen Vorfahren eher mit kalter Duldung und heimlicher Ablehnung begegnete, ein Stück weit versöhnt hat. Irgendwie war ich stolz auf dieses Land, als die Willkommensbilder vom München Hauptbahnhof um die Welt gingen. Als die New York Times damit titelte und mich Bekannte der ganzen Welt beglückwünschten zu unserer Haltung und zum neuen Gesicht Deutschlands.
Vom Mut, keine Angst zu haben
Ein Deutschland, das auf Basis gefasster Erfahrung manchmal auch selbstbewusst und gelassen sein kann. Ein Deutschland, das zwölf Millionen Vertriebene aufgenommen hat. Ein Deutschland, das einen sensiblen Umgang mit der NS-Herrschaft und der deutschen Verantwortung für den Genozid gefunden hat. Ein Deutschland, das die Anstrengungen, die mit der Wiedervereinigung verbunden waren, aufgenommen und viele wertvolle Erfahrungen mit der Einwanderung der sogenannten Gastarbeiter gesammelt hat.
Der Großvater eines bayerischen Freundes sagte in den 60er Jahren zu seinem Sohn, dem Vater meines Freundes, als dieser eine Frau aus Berlin heiraten wollte, das solle er nicht tun, die Preußen, die würden ja ganz anderes denken. Bei solchen Unterschieden, da könne man nicht glücklich werden. – Dieses simple Beispiel zeigt, welchen weiten Weg wir seither bereits gegangen sind.
Ich denke es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, wir leben in einer Zeit, die in die Geschichtsbücher eingehen wird: als eine Zeit, in der unsere Generation aufgefordert war, für die Gesellschaft, die sie sein wollte, auch einzustehen. Eine Zeit, in der wir uns daran messen lassen müssen, ob wir das, was wir theoretisch zu sein meinen, auch in der Praxis wirklich sind.
Ich denke, eine offene Gesellschaft zeichnet sich nicht auf einer abstrakten und postulierenden Ebene aus, sondern dadurch, ob sie gerade in Krisenzeiten zu einer gelebten Realität wird.
So, und jetzt vergessen Sie all das wieder. Denn wie eingangs ausgeführt, wollte ich mich bemühen, keine bevormundende Rede zu halten, sondern zum kritischen Denken – ganz im heuristischen Sinne – anzuregen. Deshalb kann ich die eingangs gestellte Frage, ob Merkels Antwort richtig oder falsch war, nicht mit Ja oder Nein beantworten. Es gibt bekanntlich auch ein Falsches im Richtigen. Ich kann nur die Frage stellen – und hoffen, dass wir gleich im Anschluss an meine Rede undogmatisch und offen darüber reden können.
Nur noch eines, was ich Ihnen mitgeben möchte: Ich glaube, dass wir der kollektiven Angst, die uns im Westen befallen hat, nur mit Visionen begegnen können. Diese müssen nicht bzw. können gar nicht richtig oder falsch sein. Und damit muss ich dem altehrwürdigen Kanzler Helmut Schmidt widersprechen, der sagte, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Nein, ich denke, wer keine Vision hat, der überlässt die Zukunft den Ängstlichen.
Deshalb lassen Sie uns aus dem Jahr der subjektiven Selbstüberforderung heraustreten. Lassen Sie uns zusammen streiten, scheitern, lernen und wieder aufstehen und weiter machen, um gemeinsamen an einem künftigen „Wir“ zu arbeiten.
In diesem Sinne, seid umschlungen: im Sinne einer gesellschaftlichen Umarmung der Mutbürger!
Im Anschluss an ihre Rede diskutierte Esra Küçük mit Moderator Heinrich Wefing (Die Zeit) und unter reger Anteilnahme des Publikums.
Esra Küçük ist Politologin. Sie initiierte das deutschlandweite Bildungsprogramm „Junge Islam Konferenz“. Seit 2016 ist sie im Direktorium des Berliner Maxim Gorki Theaters und leitet dort das „Gorki Forum“. Sie ist in unterschiedlichen Beiräten aktiv, u. a. im Beirat der KIRON, der ersten internationalen Flüchtlingsuniversität.