Das zweite Jahr ist geschafft, aber es ist kein Endpunkt.
Ruhrtriennale 2016: ein Festival-Fazit von Johan Simons
30. Sep. 2016
In den sechseinhalb Wochen Ruhrtriennale haben wir Fragen und Diskussionen angestoßen, die auch am Ende dieser Spielzeit nicht abgeschlossen sind. Unsere Themen, unsere Fragen und unsere Emotionen schwingen nach. Sowohl wir Künstlerinnen und Künstler als auch die Zuschauerinnen und Zuschauer nehmen Gedanken und Gefühle mit in ihren Alltag und mit in das Leben außerhalb dieses Ausnahmezustands, genannt Festival.
Freiheit? Gleichheit? Brüderlichkeit?
Bei der Ruhrtriennale 2016 haben wir die zentralen europäischen Werte befragt: Freiheit? Gleichheit? Brüderlichkeit? Was bedeuten uns allen diese Werte noch? Diese Diskussionen haben wir auf den Proben geführt, und wir haben mit unseren Aufführungen das Nachdenken darüber angeregt. Manchmal sehr offensichtlich, manchmal subtil.
Schon mit „Alceste“ ging es los. Die große Reformoper von Christoph Willibald Gluck ist auf den ersten Blick kein politisches Werk. Aber wie hat es Carolin Emcke in ihrer Festspielrede so schön gesagt: „,Alceste‘ erzählt von Freiheit und von Solidarität – besser als jede Rede das könnte.“
Die Ruhrtriennale 2016 war noch politischer als sonst.
Richard Siegal zog in seiner Choreografie „In Medias Res“ deutliche Verbindungslinien zwischen dem Fegefeuer in Dantes „Göttlicher Komödie“ und aktuellen politischen Diskursen.
Alain Platel wurde für seine Uraufführung „nicht schlafen“ von Gustav Mahler und von der unruhigen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg inspiriert. Aber für jeden war sichtbar, welche Parallelen es gibt zu unserer oftmals brutalen Gegenwart und zu dieser unheilvollen Stimmung, die viele in Europa gerade heraufziehen sehen.
Das Musiktheater „Earth Diver“ – unsere letzte Premiere in dieser Spielzeit – zeigte auf sehr poetische Weise eine Welt in der Krise und fragte danach, wie jeder von uns selbst damit umgeht.
Unser Projekt „Urban Prayers Ruhr“ sorgte für sehr viel Aufsehen. Sechs Vorstellungen in sechs verschiedenen Gotteshäusern im Ruhrgebiet. Ich werde es so schnell nicht vergessen, wie – zum Beispiel – in der Moschee in Duisburg plötzlich auch christliche, jüdische oder hinduistische Gesänge ertönten. Die Besucherinnen und Besucher haben neue Orte entdeckt und Menschen, Religionen und Kulturen kennengelernt, von denen sie zuvor gar nicht wussten, dass es sie so zahlreich bei uns im Ruhrgebiet gibt. Oft entstand vor Ort ein offener Dialog zwischen den Menschen, zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen.
Auch dafür ist ein Kunstfestival da: gesellschaftliche Fragen in sinnliche Eindrücke zu übersetzen.
Die Frage nach der Religion war auch ein Schwerpunkt in der Musiktheaterproduktion „Die Fremden“. Die Adaption des Romans von Kamel Daoud „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“ stellte Fragen danach, wie schwierig es ist, wirklich die Perspektive eines Anderen anzunehmen, ob nun die eines Geflüchteten oder die eines Religionskritikers. Wer den Moment in Marl miterlebt hat, wenn sich die gewaltige Kohlenmischmaschine 200 Meter nach hinten bewegt und dazu das Asko-Schönberg-Ensemble spielt und die Fantasiesprache von „Bouchara“ von Claude Vivier erklingt – wer das erlebt hat, da bin ich sicher, wird diesen Moment lange in Erinnerung behalten. Und wir sind stolz, dass sowohl der Autor Kamel Daoud aus Algerien zu unserer Uraufführung anreiste, als auch Bundespräsident Joachim Gauck – das erste Mal, dass ein Bundespräsident die Ruhrtriennale besucht hat!
Natürlich ist auch das ein Zeichen dafür, dass die Ruhrtriennale 2016 wichtige politische Themen behandelt hat.
Auch unser Programm hier in Bochum, im Refektorium, hatte deutliche politische Schwerpunkte mit einer Filmreihe zum Thema Flucht und mit Performances und Installationen, die kulturelle Konflikte thematisierten. Und die Jugendlichen aus dem Ruhrgebiet und aus Toronto, die hier ihr Machtgebiet „Teentalitarismus“ im Kunstdorf von Atelier Van Lieshout errichtet haben, sie stellten mit den vielen Performances 6 Wochen lang die Frage nach gesellschaftlicher Teilhabe: Gleichheit?
„Seid umschlungen“
Dieses Motto galt auch im zweiten Jahr meiner Intendanz. Ich meine, noch nie hatte die Ruhrtriennale so viele Spielorte wie in diesem Jahr. Wir haben das Ruhrgebiet wirklich sehr weiträumig umschlungen, von Hamm im Nordosten bis Duisburg im Südwesten. Dieses Jahr haben wir wirklich noch mehr Stunden auf der Autobahn zugebracht als sonst schon…
Wir hatten auch wieder ein unglaublich breit gefächertes Publikum: Da waren die vielen Besucherinnen und Besucher von „Ritournelle“, unserer langen Nacht der elektronischen Pop-Musik. Oder vom Drone-Metal-Konzert von „Sunn O)))“. – Sie können sich denken, dass in der „Messe in h-Moll“ mit dem großartigen Collegium Vocale Gent ein anderes Publikum saß…
In Bottrop auf dem Feld versammelten sich Zuschauer aus allen Altersgruppen für unser open air Familienstück „Sumpfland“. Und in unseren Raummusik-Konzerten von Stockhausen und Boulez kamen all jene zusammen, die neue Klangerlebnisse suchten.
Und auch in diesem Jahr haben wir wieder mit Guerilla-Konzerten die Menschen in ihrem Alltag überrascht. Im Einkaufszentrum, in der Fußgängerzone. Und das mit Weltklasse-Orchestern. Auch das ist „Seid umschlungen“.
Das zweite von drei Jahren ist immer ein Zwischen-Jahr bei der Ruhrtriennale. Aber in diesem Jahr hat sich dieses Gefühl des Dazwischen-Seins getroffen mit dem Gefühl, das viele Menschen heute haben: nämlich auch in einer Zwischen-Zeit zu leben, in einer Zeit der Ungewissheit, wie es werden wird – in Europa, in der Welt. Das wollten wir in unsere Produktionen mit hineinnehmen.
Ich persönlich kann Ihnen sagen, dass für mich diese „Zwischen-Zeit“ eine Zeit für die Kultur ist. Theater und Kunst sind heute sehr wichtig, weil sie politische Fragen auf eine andere Art stellen und weil sie die Menschen zusammenbringen, ihre Gedanken öffnen und anregen.
Diese sechseinhalb Wochen Ruhrtriennale vergingen für mich wie im Flug. Auch wenn sie natürlich anstrengend sind, für alle, die daran mitarbeiten.
Aber wir bekommen auch viel zurück...
Von Zuschauerinnen und Zuschauern, die berührt aus einer Vorstellung kommen. Die uns schreiben und sich bedanken. Die davon erzählen, dass sie etwas Unvergleichliches erlebt haben, hier an den ehemaligen Orten der Kohle- und Stahlindustrie. Wir bekommen viel zurück von Menschen, die mit uns diskutieren nach einer Aufführung oder bei den Diskussionsveranstaltungen. Wir bekommen viel zurück von Menschen, die bis zum Morgen hier im Refektorium mit uns tanzen. Wir bekommen auch viel zurück von Menschen, die kritisch mit uns sind. Und natürlich bekommen wir viel zurück von den vielen Künstlerinnen und Künstlern, die die Seele dieses großartigen Festivals sind.
Wir kosten jede Minute dieses Festivals aus!
Ihr Johan Simons