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Ruhrtriennale 2015: Ein Festival-Fazit von Johan Simons

13. Oct. 2015

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Unsere erste Spielzeit bei der Ruhrtriennale ist vorüber, und es ging viel zu schnell. Für mich hätte das Festival gerne noch ein paar Wochen länger dauern können. Ich bin sehr glücklich und habe Energie getankt bei den vielen Produktionen, die in diesen Wochen im Ruhrgebiet stattgefunden haben, genau gezählt waren es 51 mit insgesamt 18 Weltpremieren, Neuproduktionen und Deutschlandpremieren. Es gab wahnsinnig viel zu sehen, zu hören, zu entdecken und zu erleben – für viele Zehntausend Menschen. Ich freue mich, dass die Ziele, die wir uns für das erste Jahr vorgenommen hatten, auch erreicht worden sind.

Wir sind auf einem guten Weg mit diesem großartigen Festival.

© Edi Szekely

Wir wollen ein Festival nicht nur im, sondern auch für das Ruhrgebiet machen. Für die Menschen, die hier leben und arbeiten. Das bedeutet ebenso: für die Menschen, die noch nie bei der Ruhrtriennale waren oder noch nie von ihr gehört haben. Auch davon gibt es immer noch viele im Ruhrgebiet.

Unsere Eröffnung „Accattone“ hat zum ersten Mal in Dinslaken-Lohberg stattgefunden – in der Kohlenmischhalle, einem beeindruckenden neuen Spielort. Jeden Abend zogen die Zuschauerinnen und Zuschauer wie Pilger den Fußweg zur Halle hinauf und durch die Halle hindurch. Das passte wunderbar zur Passionsgeschichte, zu der die Geschehnisse im Bühnenraum durch die Musik von Johann Sebastian Bach wurden. Philippe Herreweghe und das Collegium Vocale Gent spielten und sangen atemberaubend schön, und gleichzeitig vermittelte das starke Schauspielensemble eine große Verlorenheit in der dreckigen, wüsten Weite der Halle. Diese Atmosphäre, diese Bilder, Gedanken und Gefühle werden wir KünstlerInnen, aber bestimmt auch viele ZuschauerInnen nicht vergessen.

Wir haben in Dinslaken-Lohberg im Vorfeld auch ein Marktfest gefeiert mit den Bewohnern des Viertels – um einander gegenseitig kennen zu lernen. Danach kamen viele zu den öffentlichen Proben von „Accattone“; viele von ihnen waren vorher noch nie bei der Ruhrtriennale gewesen. Später haben wir viele Nachrichten und Briefe von Lohbergern erhalten, die sich bedankt haben, dass die Ruhrtriennale zu ihnen gekommen ist.

Unser Leitmotiv „Seid umschlungen“ zeigte sich auch in der Installation „The Good, the Bad and the Ugly“ von Atelier Van Lieshout auf dem Vorplatz der Bochumer Jahrhunderthalle. Ohne dass wir es geplant hatten, wurde die Installation zu unserem Festivalzentrum. Jeden Tag kamen dort Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft zusammen. Am Ende waren es fast 20.000 BesucherInnen. Und viele RadfahrerInnen, die eigentlich nur durch den Westpark radeln wollten, hielten an, stutzten, schauten und wurden auch so ein Teil dieser Ruhrtriennale.

Was mich besonders freut: Wir haben in diesem Jahr
viele neue Gesichter auf dem Festival gesehen.

Zum Beispiel viele junge Menschen, die zu den Pop-Konzerten kamen, ob zu Owen Pallett und
s t a r g a z e, ob zu Mika Vainio oder James Holden ins Maschinenhaus, ob zu Mouse on Mars bei „80 Jahre Terry Riley“ oder natürlich zu „Ritournelle“, unserer neuen großen Festivalnacht der elektronischen Musik. 3.700 Menschen tanzten und feierten hier ganz friedlich bis in den Morgen. Auch das ist unsere Ruhrtriennale. Und plötzlich konnte man einige von ihnen auch in einer Theaterproduktion wieder treffen.

© Edi Szekely

Genauso die jungen KünstlerInnen bei der neuen Campustriennale, mit der wir den Nachwuchs aktiv gefördert haben. Sie konnten ihre Schauspiel- und Musiktheaterinszenierungen zur Uraufführung bringen; oder sie zeigten Kunstinstallationen in leeren Ladenlokalen, die Kunst ganz unterschiedlicher Art in die Innenstädte von Bochum, Duisburg und Dinslaken – und somit in den Alltag der Menschen brachten. Da waren tolle Arbeiten dabei. Die Ruhrtriennale ist auch ein Festival für junge Menschen. 

Vielleicht einer der schönsten Momente des Festivals war deshalb auch das Projekt „Millionen! Millionen! Millionen!“. Hier trafen Jugendliche aus dem Ruhrgebiet zusammen mit Flüchtlingen, die nach Deutschland gekommen sind, um Asyl zu suchen. Sie erzählten davon, was sie gemeinsam erlebt haben. Wie sie sich bei dem Projekt angefreundet haben. Manche haben sich auch ineinander verliebt. – Alle waren miteinander auf Augenhöhe. Wir haben die Flüchtlinge nicht als Opfer begrüßt, sondern als Mitmenschen, als Persönlichkeiten. Die Aufführungen – zu denen wieder viele sonst fremde Zuschauerinnen und Zuschauer kamen – waren ein Ergebnis unseres Langzeitprojekts Junge Kollaborationen. Auch dort geht es darum, mit Jugendlichen auf Augenhöhe in einem Kulturbetrieb zusammenzuarbeiten und ihnen eigene Produktionsmöglichkeiten zu geben. Damit machen wir natürlich weiter.

Augenhöhe ist ein wichtiges Stichwort für mich. Es geht um eine Grundhaltung. Auch und insbesondere zu unserem Publikum.
Wir wollen offen sein. Wir wollen nicht von oben herab auftreten.

Das haben wir versucht mit unseren neuen Publikationen: mit einer Landkarte, die jede Aufführung auf einen Satz gebracht hat und die viele begeisterte; mit möglichst einfachen Erklärtexten in drei Sprachen auf unserer Internetseite; mit einer großen Zeitung mit spannenden und unterhaltsamen Hintergrundartikeln; mit unseren Programmheften, die seit diesem Jahr nur noch einen symbolischen Euro kosten, aber dennoch viele interessante Informationen zum Weiterlesen enthalten (und die übrigens auch zum kostenlosen Download auf unserer Internetseite bereitstehen); mit unzähligen persönlichen Kontakten zu ZuschauerInnen und Menschen der Region.

© Edi Szekely

Deshalb haben wir auch viele Möglichkeiten geschaffen, mit uns und mit den Künstlerinnen und Künstlern in Kontakt zu kommen. Bei den sonntäglichen „Werkstattgesprächen“, die für jeden verständlich waren, bei öffentlichen Premierenfeiern, bei „Johans Saloon“ am späteren Abend oder ganz einfach bei den vielen langen Nächten im Refektorium von „The Good, the Bad and the Ugly“ in Bochum, wo man nicht selten noch bis in den frühen Morgen mit den Musikern von „Das Rheingold“ tanzen konnte, der Dirigent Teodor Currentzis mittendrin. Und nicht zu vergessen unser Überraschungskonzert mit MusicAeterna in Duisburg-Marxloh: einfach so, auf einem Platz, umsonst und draußen, als Überraschung und auch ein Bisschen als Geschenk. Das alles ist „Seid umschlungen“.

Dazu gehört auch, dass wir die Bewohnerinnen und Bewohner des Ruhrgebiets nicht nur als BesucherInnen begrüßen, sondern dass wir sie einladen, selbst bei der Ruhrtriennale mitzumachen. Bei „Orfeo“ von Susanne Kennedy, Bianca van der Schoot und Suzan Bogaerdt haben sich die Zuschauer durch die Theaterräume hindurch bewegt und standen den Performern Auge in Auge gegenüber. Das war stellenweise unangenehm und unheimlich. Aber die BesucherInnen mussten sich dabei auch mit sich selbst auseinandersetzen. Oder der Filmkünstler Julian Rosefeldt. Er hat für seine Filminstallation „In the Land of Drought“ mit Hunderten Komparsen aus der Region zusammengearbeitet. Und beim Finale des wunderbaren Konzerts von Joseph Haydns „Die Schöpfung“ in der Duisburger Kraftzentrale sind mehr als hundert Menschen aus Laienchören des Ruhrgebiets im Zuschauerraum aufgestanden und haben mitgesungen. Ich kann immer noch nicht glauben, dass der Dirigent René Jacobs da mitgemacht hat.

© Volker Hartmann/Urbane Künste Ruhr

Auch eine Installation wie „Nomanslanding“ zeigte vor allem dann ihre Kraft, als die BesucherInnen aktiv daran teilgenommen haben. „Nomanslanding“ war ein Projekt von Urbane Künste Ruhr, das zwischen Sydney, Glasgow und dem Ruhrgebiet mit internationalen KünstlerInnen entstanden ist.

Es gab viele internationale Produktionen
bei der Ruhrtriennale dieses Jahr.

Zum Beispiel unsere Schauspielproduktionen „Die Franzosen“ von Krzysztof Warlikowski in Gladbeck und „Die stille Kraft“ von Ivo van Hove im Essener Salzlager. Die eine Aufführung spielte auf Polnisch, die andere auf Niederländisch. Die ZuschauerInnen konnten dabei nicht nur unterschiedliche Sprachen, sondern auch unterschiedliche Schauspieltraditionen erfahren, was mir sehr wichtig ist. Wir alle sind Europa, ein Europa, fußend auf Kultur, auf unterschiedlichen Kulturen. Ich weiß, dass es mit den Übertiteln bei den „Franzosen“ etwas anstrengend war, manchmal vielleicht zu schnell. Aber dennoch war es für mich ein eindrucksvolles Erlebnis.

© Michael Kneffel

Ein riesiges internationales Projekt war natürlich auch „Das Rheingold“. Das große Orchester MusicAeterna aus dem russischen Perm nach Bochum zu bringen, war ein Kraftakt für uns, der sich am Ende gelohnt hat. Die Energie und Wildheit dieser Musiker haben Wagners Oper zu einer intensiven Erfahrung werden lassen. Ich kann mir auch keinen besseren Dirigent für diesen Abend denken als den Griechen Teodor Currentzis. Seine impulsive und gleichzeitig feinfühlige Interpretation war mitreißend. Allein ihm beim Dirigieren zuzusehen, ist schon eine unglaubliche Erfahrung – und viele Statisten konnten das sogar hautnah auf der Bühne miterleben. Die anderen ZuschauerInnen sahen von der Tribüne aus, wie sehr für mich „Das Rheingold“ eine Geschichte des Ruhrgebiets, des Kapitalismus und der Ausbeutung ist.

Mit solchen großen Stoffen haben wir bei der Ruhrtriennale
Geschichten über die Themen des Ruhrgebiets erzählt.

Auch im berührenden Auftakt unserer Zola-Trilogie „Liebe“ in der Regie von Luk Perceval in der Duisburger Gießhalle. Wir glauben an diese, auch manchmal alten, Stoffe. Weil sie der Kern unserer Kultur sind, weil sie gültig sind bis heute, weil es wichtig ist, diese Geschichten wieder und wieder neu zu erzählen und zu befragen.

Manchmal funktioniert „Seid umschlungen“ aber auch ganz direkt als Klang im Raum: So wie bei Luigi Nonos „Prometeo“ in der Kraftzentrale in Duisburg, wo das Orchester um das Publikum herum steht und die Musik, unter der Leitung von Ingo Metzmacher, von allen Seiten erklingt. Auch das war eine wunderbare Produktion, an die ich noch lange denken werde und die nicht zuletzt mit dem Zusammenspiel aus echtem Nebel, Raumarchitektur und Licht von Eva Veronika Born ein ganz besonderes Erlebnis schuf, wie man es nur in dieser Halle haben kann.

„Accattone“, „Orfeo“, „Prometeo“, „Liebe“, „Das Rheingold“ oder auch „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ – immer wieder wurden die Industriehallen selber auch Mitspieler unserer großen Aufführungen. Sie haben die Bühnenbilder inspiriert, sie setzten die Geschehnisse in einen ganz speziellen Rahmen, sie wurden künstlerisch genutzt, benutzt, bespielt. Das wird ebenso in der Zukunft noch stärker unser Augenmerk sein.

© Christoph Sebastian

Es war uns wichtig, in der Kunst selber keine Kompromisse bezüglich der Qualität zu machen, aber das künstlerische Spektrum der Ruhrtriennale zu erweitern. Das haben wir mit dem Musikprogramm verfolgt, mit der Wiederbelebung des Schauspiels im Festival, mit der Rückkehr eines Familienstücks – „Sturzflug“ –, was ebenso wichtig war, um neue ZuschauerInnen für unsere Kunst zu gewinnen und wo wir z. B. SchülerInnen aus Dinslaken kostenfrei und mit Shuttlebussen eingeladen haben; und nicht zuletzt mit dem Tanzprogramm. Anne Teresa De Keersmaekers abstrakt-geometrische Choreographien in ihrer sehr persönlichen Rilke-Uraufführung, Jan Decortes intuitives Spiel bei „Much Dance“, Meg Stuarts entgrenzende Körpererfahrungen in „UNTIL OUR HEARTS STOP“ und schließlich Richard Siegals Verschmelzung von modernem Tanz und klassischem Ballett in der Uraufführung „Model“ – hier konnte man wirklich die ganze Bandbreite des zeitgenössischen Tanzes erleben, und wieder sah ich so viel junges Publikum bei den Aufführungen bei PACT und im Salzlager auf dem Zollvereingelände.

Ich weiß nicht, ob Byung-Chul Han noch einmal während des Festivals da war. Der Philosoph hatte mit seiner Festspielrede zur Eröffnung für guten Diskussionsstoff gesorgt. Eine „Hoch-Zeit“, eine Zeit der Muße und des Festes, forderte er für die Ruhrtriennale. Ich denke, dass uns das immer wieder gelungen ist: einen Ort und eine Stimmung zu erschaffen, in dem Leistungs- und Arbeitsdruck weg fallen und stattdessen sinnliche Eindrücke, freie Gedanken und auch Kontemplation zusammenkamen. Mit der Festspielrede, mit der Debatte zur Eröffnung, mit dem ZEIT Forum Kultur, dem Symposium „Domesticate Me“ und der Gründungsveranstaltung des „Zukunftsrat Ruhr“ war die Ruhrtriennale häufig auch Ort der Diskussion und Reflexion über die Gesellschaft und über drängende Themen des Ruhrgebiets. Ich habe auch dabei wieder Neues dazu gelernt.

Außerdem haben wir den Essayfilm „Müdigkeitsgesellschaft“ über Byung-Chul Han gezeigt, kostenlos, bei voller Hütte, wenn man das so sagen kann. Jeden Mittwoch wurde das Refektorium von „The Good, the Bad and the Ugly“ vor der Bochumer Jahrhunderthalle zum Kino für spannende Dokumentationen. Jeden Tag war die Bar von I Am Love geöffnet. Und daneben fanden hier Workshops statt, lange DJ-Nächte, Clubkonzerte, Performances und Lesungen wie etwa von den tollen Beckmann-Geschwistern „Spielkinder“ oder von Dantes „Inferno“, bei dem die ZuschauerInnen trotz kalter Temperaturen mehr als vier Stunden fasziniert ausharrten. Was für ein fantastischer Ort, dieses Refektorium, das wir auch im kommenden Jahr wieder bespielen werden für all die vielen neugierigen BesucherInnen und Passanten.

Unser Leitmotiv „Seid umschlungen“ hat Zeichen gesetzt
und Spuren hinterlassen. Daran wollen wir auch in den
nächsten beiden Jahren anknüpfen.

Wir werden sozusagen weiter umschlingen. Und jede und jeder kann entscheiden, ob das dann schön oder anstrengend ist. Nicht alles kann allen gefallen. Das ist auch gut so. Die Ruhrtriennale soll ein Festival sein, über das man streiten kann. Ein Festival, das Menschen bewegt, berührt, begeistert. Menschen aus dem Ruhrgebiet. Und aus aller Welt. Wie sie jetzt schon so oft anzutreffen waren. Es war wirklich eine tolle Zeit. Kunst und Begegnungen!

Die kommende Spielzeit dauert vom 12. August bis zum 25. September 2016. Ich hoffe, Sie haben sich in diesen gut sechs Wochen noch nichts vorgenommen. Ich freue mich jedenfalls sehr darauf. Und ich freue mich auch darauf, wenn wir von November 2015 bis April 2016 zum ersten Mal auch außerhalb des Festivalsommers spielen: bei unserer großen Lesereise „The Rest is Noise“ mit den sechs Theatern des Ruhrgebiets und den Bochumer Symphonikern.

© Ruhrtriennale

Die Ruhrtriennale schläft nicht!

Ihr
Johan Simons