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Liebesmaschinen – Ritournelle auf dem Gelände der Jahrhunderthalle Bochum

03. Sep. 2015

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Marcus Simaitis

Der Regen kam erst gegen vier Uhr früh. Das ozeanische Gefühl war längst da. Und durchflutete immer noch einige der insgesamt rund 3700 Körper, die am Eröffnungswochenende der Ruhrtriennale zur ausverkauften Ritournelle gepilgert waren, um sich rund um den Wasserturm auf dem Gelände der Jahrhunderthalle Bochum verschiedensten Mannigfaltigkeiten hinzugeben: Dem hochkarätig besetzten Line-up aus lokalen und internationalen Acts, dem Flow der Bewegung zwischen draußen und drinnen, den Live-Performances von HeCTA, The Notwist und Caribou oder den DJ-Sets von Barnt und Pantha du Prince, Roman Flügel und Rødhåd, der Amalgamierung der Stile zwischen tanzbarem Clubsound, atmosphärischen Klangteppichen, monumental hämmerndem Techno… – und nicht zuletzt jenem tiefen, elektronisch geräuschigen Bassdröhnen, welches Raum und Zeit vorübergehend bedeutungslos werden lässt, dem Drone.

„Im Drone folgen nicht mehrere Ereignisse einander; er ist nicht nur mehr Notenschrift als eine Kette diskreter Ereignisse, die man bezeichnen kann, repräsentierbar, auch in seiner bloßen Gestalt gibt es kein Vorne und kein Hinten, keine Mitte und keine Phasen, nur (…) eine Leidenschaft für Stasis“, schreibt Diedrich Diederichsen in „Über Pop-Musik.“. Er attestiert den akusmatischen Zauberklängen eine „viszerale Wirkung“, die sich „nicht auf das Hörbare beschränkt, sondern die Architektur und die Körper in Bewegung versetzt, deren Vibrationen das Körperinnere auch da durcheinanderbringen, wo nicht ein Sinnesorgan seine materiellen Empfindungen an ein datenverarbeitendes Hirn weiterleitet.“ Der Klang geht also tief in uns ein. Er trägt uns ins Hier und Jetzt, entgrenzt, umschlungen, durchdrungen, frei, glücklich, voll „erhaben bescheuerter Leere“. Denn Drones sind „Liebesnoise“, wie an diesem Abend auch allüberall auf den schwarzen Ritournelle-Jutetaschen zu lesen war.

Aber was heißt dieses Ritournelle eigentlich? In der Barockmusik steht das Ritornell für Wiederkehr, für den Refrain, für den Affekt, der nicht rational verarbeitet und zu den Akten gelegt werden kann, sondern uns immer wieder, immer stärker überkommt. So zum Beispiel, wenn Glucks Orfeo den Tod seiner Geliebten nicht vergessen kann, sondern klagt: „Che farò senz’ Euridice?“ („Was mache ich nur ohne Eurydike?“), und in diesem Loop neuen Schwung holt für das Hineinsteigern in potenziell immerwährende Verzweiflung. Musik als Perpetuum mobile. Die Aufhebung der Gegensätze in Differenz und Wiederholung, auch im Viervierteltakt der postmodernen Soundmaschine, Liebesmaschine, Revolutionsmaschine. Denn Maschinen gibt es ja genug im Ruhrgebiet. Wo Städtegrenzen auf der Landkarte wie auf der Autobahn verwischen, scheint auch das Menschliche näher beieinander zu liegen. Kunst geht in Fabrikhallen, in Keller, Scheunen, Installationen und unter freiem Himmel. Und auch ein Rave ist eine theatrale Veranstaltung. Pop- und Hochkultur, Avantgarde und Tanzbarkeit sind keine Widersprüche, sind es nie gewesen.

Wenn das Ritornell zum Formprinzip wird, läuft die Zeitwahrnehmung im Kreis. Die Einzigartigkeit eines jeden Augenblicks gewinnt ganz überraschend an Intensität – zum Beispiel dieser bestimmte Moment in der Schlussphase der ersten Runde Ritournelle: Man steht direkt neben einer der Boxen, unter  dem Wasserturm, eine ekstatische Menschenmenge tanzt im strömenden Regen, Dämmergrau kündigt sich vorsichtig an, das geschieht unter dem alles und alle vereinenden Leitklang des Drones. Schön, dass es scheinbar etliche Menschen an diesem Wochenende genauso glücklich gemacht hat wie die Autorinnen.

A propos Leitklang – ein weiterer prominenter Künstler des diesjährigen Festivals arbeitet mit Drone Sounds, nämlich Richard Wagner. Was der finnische Elektro-Experimentalist Mika Vainio mit der Partitur des Rheingold-Komponisten anstellt, wenn er das berühmte tiefe Es im Kontrafagott des Orchesters in einer Soundinstallation weiterverarbeitet, welche die Jahrhunderthalle wohl einmal mehr zum Beben bringen wird – davon kann man sich ab Mitte September überzeugen. Nächstes Jahr gibt es dann wieder eine ganze Nacht voll Noise, Pop, Lovesongs. Ritournelle kommt wieder, Differenz und Wiederholung. Was sonst.

von Lea Kappl und Nadja Eller