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Liebe. Trilogie meiner Familie 1 / Probennotiz 4

11. Sep. 2015

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Erzählung I:

Das Tragische an den Zola-Figuren: sie sind längst tot. Auch wenn sie immer erzählen, geht ihnen die Erzählung immer voraus, sie haben einen Antagonisten und das ist die Zeit, und dagegen wehren sie sich, und es ist ein gegen das eigene Verschwinden An-Erzählen, ein nur-durchs-Erzählen-über-die-Dinge- kommen, sie wehren sich gegen die eigene Nichtigkeit und die Angst vor dem Sterben. Und ich verstehe ihre Panik, die befällt mich auch mit der Erkenntnis, schon vor einer Sekunde Teil einer bereits erzählten Geschichte zu sein. Also, die Energie des Erzählens: gegen den Fakt der Sterblichkeit anreden. Sehr bizarr, Figuren zuzugucken, die eigentlich längst tot sind, und außerdem beruhigend, weil sie ja immer noch reden, sie reden mit mir in dieser Zeitlücke, sie reden mit mir in der Unlogik.


Vererbung

In meinem Hof in Berlin findet eine Party auf Gebärdensprache statt. Meine Nachbarin ist jetzt mit einem Mann zusammen, der gehörlos ist. Seine ganze Familie ist zu Besuch: er hat eine gehörlose Schwester und eine gehörlose Mutter, und eines seiner Kinder ist ebenfalls gehörlos. Der Mann beobachtet mich sehr genau, und ich bin auf der Hut vor ihm, weil er in meinen Gesten lesen kann wie in einem Buch. Beim Googeln finde ich heraus: Gehörlosigkeit wird überhaupt nicht genetisch vererbt.


Erzählung II:

Ich glaube, dass Pascals Schatztruhe da oben so eine Art Blackbox der Geschichte ist, und alle Informationen sind darin enthalten: Informationen von Kindern, die über Grenzzäune geworfen werden, Informationen von vertrockneten Landstrichen, von Kreuzzügen, Agrarreformen und Geisterbeschwörungen, Informationen aus Bedürftigkeit, Hilflosigkeit und Ignoranz. Das alles hat Pascal in seiner Kiste.

Während der Proben: Am Strand von Tunesien wird ein Terroranschlag auf Touristen verübt. Alle Informationen sind sofort im Internet verfügbar. Ich sitze vor den Nachrichten, es gibt kein Argument des Unwissens. Ich google mir meine Informationen zusammen, und mich beschämt die Haltung einer Gesellschaft/der einen Hälfte der Welt, zu der ich ohne Frage gehöre, die das Ausradieren von Erzählung, das Verleugnen von Geschichte und (global gesehen) von Schuld ist. Und ich wundere mich, wie es mir immer wieder gelingt mich aus dieser Erzählung, die jedes Kreisen, jedes Heimatverlassen, jede Abschottung von Menschen auf diesem Planeten miteinander verbindet, auszuklammern, wie es mir immer wieder gelingt, den Kopf in den Sand zu stecken und, wenn ich vor den voll gestopften Regalen im Supermarkt stehe, so zu tun, als beträfe mich das alles nicht. Ich sitze also, fasziniert von der eigenen Verdrängungsleistung, vor dieser Blackbox Internet wie Felicité vor Pascals Kiste: einfach alles verbrennen. Den Schmerz von Wissen einfach auslöschen. Die Erzählung durchschneiden. Komisch. Wir sind so verbunden wie nie, wir sind so vereinzelt wie nie.

In der Zeit der Proben explodiert die ganze Erzählung. Und in Deutschland brennen Asylunterkünfte jetzt in Flatrate.


Musik

Geprobt wird Akt 6: Coupeaus Tod. Er stirbt jetzt, er kommt nicht wieder hoch, er, der sich immer wieder hoch gerappelt hat wie ein Hund, er verreckt jetzt, vom Alkohol zerfressen, in einem Armenspital, und seine Familie sieht ihm beim Verrecken zu, seine Kinder Nana, Jacques und Etienne und seine Frau Gervaise, und in ihren Gesichtern mischen sich Ekel, Neugier und ein fast wissenschaftliches Interesse diesem Sterben zuzusehen, mit dem Schmerz, wie dieses absurde Wesen, diese Ratte im Reagenzglas, das da seine letzten Zuckungen macht und endlich den letzten Atemzug, dieser in Alkohol getränkte Schwamm, ihr Vater und Mann sein kann. Der, um den sie trauern könnten, den gibt es schon lange nicht mehr, den gibt es nur in der Erinnerung. Und dieser Coupeau, der hier die letzte halbe Stunde misshandelt, randaliert und vegetiert hat, gibt mir, bevor er geht, noch einen letzten Blick, einen ganz klaren, der fast das Wundern von einem Kind ist, dass sein Leben, das hier zum Experiment gemacht wurde, jetzt tatsächlich vorbei ist. Und wenn es so ist, streiten sich Mutter und Tochter um seine Jacke, nicht als Andenken, sondern weil eine Jacke wärmt. Und etwas geschieht auf der Probe, wo dieser Moment anfängt im Stück, der Weg abwärts ins Bodenlose, wo diese abstrakte Erkenntnis, dass alles vergeht und alles erlischt, plötzlich konkret wird, etwas geschieht auf der Bühne und im Publikumsraum, wo ich unsichtbar sitze, etwas ganz schräges, als würde die Luft dünn werden, eine Tonverschiebung, ein gemeinsamer Sound aus Worten, Gitarre, Gebeten, und es ist ein Geheul, eben die Sehnsucht, die Sucht sich nach dem Leben zu sehnen, das mich komplett zerlegt. In dieser Sehnsucht gibt es keine Nostalgie, es ist einfach nur die Wut über das chronische Zerfallen von Zukunft.


Erzählung III:

Artikel auf Spiegel online: aus einer Studie über die Therapie von Helfern des Zugunglücks von Eschede geht hervor, dass diejenigen Helfer, die sofort nach dem Einsatz therapeutisch betreut wurden, heute schwerer mit posttraumatischen Störungen zu kämpfen haben als diejenigen, die nicht betreut wurden. Wie nachhaltig das Ergebnis dieser Studie ist, geht aus dem Artikel nicht hervor. Dementsprechend: keine Information über den Fortbestand (m)einer Gesellschaft im Verdrängungszustand.



Von Anne Habermehl