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10 Fragen an: Peter Jacquemyn

23. Apr. 2015

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Production still by Sigrid Tanghe

Peter Jacquemyn zählt zu Belgiens interessantesten Improvisationsmusikern und genießt darüber hinaus internationale Anerkennung. Sein vielseitiges künstlerisches Schaffen umfasst den Bereich der Zeichnung ebenso wie der Bildhauerei und der Musik. Bei der Ruhrtriennale 2015 performt er gemeinsam mit den Musikern Gunda Gottschalk und Carl-Ludwig Hübsch sowie mit der Künstlerin Sigrid Tanghe im August ein Konzert im Maschinenhaus in der Essener Zeche Carl. Wir haben ihm 10 Fragen gestellt...

Ruhrtriennale: “Wie die Orotschen sagen” ist der Titel deines Konzertes bei der Ruhrtriennale 2015. Kannst du uns etwas mehr zum Titel sagen?
Peter Jacquemyn: Die grundlegende Idee für diese Performance geht zurück auf einen Mythos der Orotschen, einem indigenen Volk aus dem Fernen Osten Russlands, über den Anfang der Zeit, den Ursprung der Erde und des Lebens auf der Erde. Fast jeder Satz endet mit: “Wie die Orotschen sagen.” Es wird zum Mantra. Ich mag den Satz.

RT: Deine Partituren sehen wie Zeichnungen aus. Kannst du deinen Arbeitsprozess etwas näher beschreiben – von der ersten Skizze zum fertigen Stück?
PJ: Meine Partituren sind vergleichbar mit einem Moodboard. Ich versuche viele Informationen zu visualisieren: was passieren wird, wie die Musik klingen und welche Gefühle sie auslösen wird. Ich füge Ideen zum Lichtdesign ein, letztendlich auch Text …
Diese Partituren hier sind momentan die letzte Version meiner täglichen Arbeit an den Skizzen. Jeder Tag bringt neue Ideen, die ich zeichne, die wiederum zu neuen Ideen führen. Zeichnen ist ein unverzichtbarer Schritt in der assoziativen Entwicklung des kreativen Prozesses. Um im Fluss zu bleiben, um den Inhalt stärker zu machen, um die narrative Struktur zu organisieren und alles zu präzisieren, ist es für mich absolut unverzichtbar, meine Ideen in einer Zeichnung zu konkretisieren. Ohne das Zeichnen könnte die Idee vielleicht schon zu Anfang ihrer Entwicklung ins Stocken geraten. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass diese Skizzen sehr motivierend auf andere Künstler wirken. Sie sehen ihre Performance bereits in meiner Zeichnung. Im Übrigen liebe ich es zu zeichnen. Es beruhigt mich, gibt mir Energie und macht mich glücklich.

© Peter Jacquemyn

RT: Würdest du dich als Musiker oder Bildhauer bezeichnen und was inspiriert dich?
PJ: Eine schwierige Frage. Ich tue was ich tue, weil ich es tun muss. Ich kann nicht anders. Ich habe keine andere Wahl.
Aber ich habe natürlich auch besondere Interessen, aus denen ich Inspiration ziehe. Zum Beispiel interessiere ich mich sehr für die Ursprünge menschlicher Verhaltensweisen, für prähistorische oder sogenannte „primitive“ Kulturen. Alle Arten authentischer Weltmusik, Kunst, Malerei und Bildhauerei sind eine große Inspirationsquelle für mich. Man könnte schon behaupten, dass es früher keine Form der Spezialisierung in bestimmte Tätigkeitsfelder gab. Man brauchte ein Messer, also hat man sich Steine genommen und scharfe Kanten geschlagen. Dasselbe gilt für Musik und Kunst. Jedes Mitglied eines Stammes hat seine eigene Maske gemacht, seinen Körper bemalt und als Teil eines Rituals gesungen und getanzt. Damals gab es den Beruf „Künstler“ nicht. So verstehe ich auch Joseph Beuys‘ Aussage „Jeder Mensch ist ein Künstler.“ So sehe ich mich auch…
Wie auch immer, der Körper bewegt sich, die Bewegung hinterlässt Spuren, ein Geräusch oder ein Zeichen. Es macht für mich keinen Unterschied, die Bewegung ist der Ursprung.

© Peter Jacquemyn

RT: Was war deine erste Liebe – Musik oder Bildende Kunst?
PJ: Bildhauerei und das Zeichnen kamen zuerst. Ich habe Bildhauerei studiert und hatte keine musikalische Vorbildung. Erinnerungen an das Zeichnen gehören zu meinen frühesten Erinnerungen überhaupt. Als ich aufwuchs, fühlte ich einen starken Drang danach, Musik zu machen. Also kaufte ich mir eine Bluesharfe, das einzige Instrument, das ich mir leisten konnte, und ich habe angefangen, in einer Punkband zu spielen. Dann verließ der Bassist die Band…

RT: Auf der Bühne nutzt du Plastiktüten oder alte Blechdosen als Musikinstrumente. Wie bist du auf die Idee gekommen, diese Gegenstände zu nutzen?
PJ:  Ich hatte keinerlei Musikausbildung, daher musste ich mir selbst beibringen, wie man zum Beispiel Bass spielt. Da ich mich auf keine Techniken beziehen konnte, musste ich meine eigenen Antworten finden. Eine eigene Sprache, Herangehensweise und Technik zu entwickeln, gehört zur Kunst. Das Experimentieren abseits der Tradition ist fast eine Notwendigkeit der künstlerischen Ausbildung. Genau das habe ich auf meine musikalische Selbstausbildung angewendet. Ich habe oft mit sehr virtuosen Pianisten und Gitarristen zusammengearbeitet und war fasziniert von ihren Möglichkeiten, klanglich, dynamisch und harmonisch. Ich musste meine eigene Strategie entwickeln, damit umzugehen, und den Bass so zu bearbeiten, dass es eine beinahe grenzenlose Spanne von Klangoptionen hat. Mein Bass kann klingen wie eine kleine tibetische Fiedel aber auch wie eine gewaltige Kirchenorgel …

© Peter Jacquemyn

RT: Gibt es einen bestimmten Künstler, mit dem du gern zusammenarbeiten würdest?
PJ: Ob ich mit einer bestimmten Person einmal zusammenarbeiten möchte ist eine schwierige Frage.  Einer meiner Träume ist es, die Ausstattung einer Oper zu übernehmen, mit meinen Skulpturen, Kostümen, meinen Zeichnungen, vielleicht animiert als Stop-Motion-Film. Eine große Wagner-Oper wäre eine richtige Herausforderung.
Andererseits möchte ich aber auch auf der Bühne stehen, ich möchte Musik machen, wenn möglich in Kombination mit Bewegung und Theater. Inspiriert vom großen Wuppertaler Bassist Peter Kowald, fing ich an, den Kontrabass zu spielen. Wir wurden sogar gute Freunde und er stellte mich einigen Tänzern von Pina Bausch vor. So kam es zu Performances mit ehemaligen Tanztheater-Leuten wie Jean-Laurent Sasportes und Geraldo Si. Eine Zusammenarbeit mit dem Tanztheater Wuppertaler ist ein weiterer dieser unerfüllbaren Wünsche. Zu diesen gehört auch, Musik für Theaterstücke oder Filme von William Kentridge zu machen, ein Künstler, den ich sehr schätze.
Ideal wäre eine Kollaboration bei der meine Musik und meine Kunst involviert sind, bei der ich das Bühnenbild kreiere und auch performe. Eine derartige Zusammenarbeit würde mich wirklich weiter bringen. Es ist so schwer, nur einen Namen zu nennen. Ich habe wohl zu viele Träume …

RT: Warst du schon einmal im Ruhrgebiet?
PJ: Aufgrund meiner starken Verbindung zu Peter Kowald und der Wuppertaler Impro-Szene bin ich oft in der Region. Nun gehört Wuppertal zwar nicht zum Ruhrgebiet, ist aber zumindest in der Nähe…
Vor ein paar Jahren habe ich für Johannes Thorbeckes Inszenierung von Heiner Müllers 'Philoktetes' u. a. in Recklinghausen und einigen weiteren Städten gespielt. Ich erinnere mich daran, wie ich oft durch verlassene Industriegelände gelaufen bin. Ich liebe diese Landschaft! Sie ist gigantisch und erinnert mich irgendwie an mittelalterliche Burgruinen, vergessene Städte, die von der Natur zurückerobert werden. Es ist als würde man durch eines von Anselm Kiefers Gemälden laufen.
Letzten September bin ich auch auf Solotour durch Deutschland gegangen und habe in Essen, Wuppertal, Köln, Bochum, Duisburg, Bielefeld, Münster und Düsseldorf gespielt. Ich bin also durchaus mit NRW und dem Ruhrgebiet vertraut. Ich fühle mich hier sogar Zuhause, Wuppertal ist eh eine zweite Heimat geworden.

© Peter Jacquemyn

RT: Welche Musik hörst du?
PJ: Mehr als die Hälfte meiner CD-Sammlung besteht aus Weltmusik aus aller Herren Länder. Musik der Papua aus Papua-Neuguinea, der Pygmäen aus Zentralafrika, Kecak aus Bali oder Kehlgesang kanadischer Inuit und vieles mehr. Oftmals fast vergessene Musiktraditionen von verdrängten Minderheiten oder fast zerstörten Zivilisationen. Ich werde zutiefst inspiriert und geformt von sogenannter „primitiver“ Stammesmusik. Als Teilnehmer des Roaring Hooves Festival in der Mongolei vor ein paar Jahren war ich in direktem Kontakt mit mongolischer Musik, Kehlgesang, Morin Khuur, einer mongolischen Pferdekopfgeige … Es war eine lebensverändernde Erfahrung.
Ich liebe auch Jazz. Es gibt eine große Jazztradition, hier fallen mir insbesondere Ornette Coleman und Thelonious Monk ein. Darüber hinaus tauche ich immer tiefer in Neue Musik ein. Die Musik von Komponisten, die wie Giacinto Scelsi auch von Weltmusik inspiriert wurden, gefällt mir besonders.

© Peter Jacquemyn

RT: Worauf bist du besonders stolz?
PJ: Vor ein paar Jahren habe ich beim Free Jazz Festival in Prag gespielt und nach meinem Gig kam ein Jazzmusiker aus Chicago zu mir und sagte: “Hey man, you're crazy! You play this boring, intellectual, European, contemporary, abstract chamber music shit, but you make it swing man, swings like hell your music.” Leider weiß ich seinen Namen nicht mehr. Im letzten Jahr habe ich mit Roy Cambell Jr., einem grandiosen amerikanischen Jazztrompeter, gespielt. Nach dem Gig flüsterte er mir zu: „Du bist einer von uns.“ Ein paar Monate später starb er … Von Altmeistern des Free Jazz und der Improvisation anerkannt zu werden, macht mich stolz, ja, sehr stolz.


RT: Wie bereitest du dich auf eine Performance vor?
PJ: Ein gutes Museum für moderne Kunst zu besuchen ist meine liebste Vorbereitung auf ein Konzert. Das Folkwang Museum in Essen oder das Museum Küppersmühle in Duisburg zum Beispiel. Dann kommt natürlich das Aufwärmen und Dehnen, als würde ich mich auf ein Sportereignis vorbereiten. Meine Musik ist ja auch sehr physisch. Abschließend zeichne ich in mein Skizzenbuch und werde ganz ruhig, voll konzentriert und fokussiert – bereit für die Performance.