Was fasziniert uns eigentlich so an der Hölle? Selbst wenn wir nicht an Gott glauben, nicht an dessen Strafgerichte und schon gar nicht an die Verheißung aufs Paradies, aber die Hölle, die weckt bei jedem die Fantasie. – Bei der Ruhrtriennale ist 2015 das Jahr der Hölle.
In „Orfeo“ durchqueren wir eine höllisch-klaustrophobische Alltagsunterwelt. In den montäglichen Konzerten im Maschinenhaus folgen wir „Höllenfahrten“. In „Die stille Kraft“ wird das tropische Paradies auf Java für die Kolonialisten zur Hölle auf Erden. In „Accattone“ lenkten wir den Fokus auf die Geschundenen an den Rändern des gesellschaftlichen Zentrums, den Ausgestoßenen, verlorenen Seelen gleich. Und für „Model“ ließ sich Choreograph Richard Siegal direkt von Dante Alighieris „Inferno“ inspirieren. – Viele Verbindungslinien dieser Spielzeit führen zum ersten Teil von Dantes Jahrhundertwerk „Die Göttliche Komödie“ – dem „Inferno“. Der „Hölle“.
Aber jetzt kommt das Original.
Am Samstag, den 5. September 2015, feiern wir eine lange Dante-Nacht. Einen langen Trip in die Hölle. Mit dem Originaltext.
Ort des Trips in die Unterwelt ist das Refektorium im Kunstdorf „The Good, the Bad and the Ugly“ vor der Bochumer Jahrhunderthalle. Laura Olivi, die die große Lesung szenisch einrichten wird, ist begeistert von diesem Ort. Von der Decke baumeln bereits kopfüber bleiche Menschenleiber, gespaltene Körper, die der Künstler Joep van Lieshout entworfen hat. „Das sind die Seelen, die in der Hölle schmoren“, findet Laura Olivi.
Zusammen mit den Schauspielern Thomas Anzenhofer, Jele Brückner und Michael Lippold können die Zuschauer eine literarische Höllenfahrt auf den Spuren von Dante unternehmen. Viele Bochumer kennen die drei aus vielen Aufführungen am Schauspielhaus Bochum, wo sie engagiert waren und auch einander kennen lernten. Gerade sind sie dabei, sich auf die Lesung vorzubereiten. Jele Brückner erzählt: „Zurzeit bin ich in Klagenfurt, und seit ich dem Betreiber der Eisdiele unter meiner Unterkunft von der Lesung erzählte, ruft er mir jetzt jeden Morgen laut über den Platz auf Italienisch den ersten Satz aus dem ,Inferno’ zu.“ – „Nel mezzo del cammin di nostra vita
mi ritrovai per una selva oscura,
ché la diritta via era smarrita.“ Auf Deutsch: „Wohl in der Mitte unsres Lebensweges geriet ich tief in einen dunklen Wald, sodass vom graden Pfad ich mich verirrte.“
Es ist Dante selbst, der hier in seiner Lebensmitte, man könnte auch sagen: Midlifecrisis, vom rechten Weg abkommt. Dante stolpert gewissermaßen in die Hölle herein, als ein Besucher, und wird dort vom Dichter Vergil in Empfang genommen und durch die verschiedenen Höllenkreise geführt. Wem er dort alles begegnet, das ist ein wahres Schauerkabinett.
Dante war nicht nur sehr religiös, er glaubte also an das lodernde Höllenfeuer, er war auch ein politisch aktiver Mensch. In seine Version der „Hölle“ sperrt er viele Politiker und Künstler, denen er durchaus mal eine Abreibung wünschte. So ist die „Göttliche Komödie“ zum einen ein philosophisches Werk, aber auch eine politische Satire.
Und sie ist natürlich großartige Weltliteratur. „Wir wollen mit den Zuschauern einen Trip unternehmen in diese fantastische Welt“, sagt Laura Olivi, die sonst als Dramaturgin am Residenztheater in München arbeitet und schon etliche solcher Groß-Lesungen eingerichtet hat, etwa mit Rolf Boysen oder die „Odyssee“ mit Thomas Holtzmann. „Die Schauspieler sollen das Publikum packen, in den Bann nehmen. Sie werden auch nicht bloß vorn an ihren Tischen sitzen bleiben. Wir wollen auch mit Fotoprojektionen arbeiten – es soll wirklich eine sehr atmosphärische Höllenfahrt bis tief in die Nacht werden.“
Viereinhalb Stunden dauert der kollektive Trip durch die Höllenkreise. Ab 18 Uhr, parallel zum Untergang der Sonne, steigen wir tiefer in die Unterwelt. Nach und nach soll sich ein Sog einstellen, ein Sprachrausch, eine Bilderwelt, die vor dem eigenen Auge ersteht. Die Hölle, wie nur ein Genie wie Dante sie erdenken konnte. Hereingetreten!