Editorial 2014

Heiner Goebbels

Wenn unser Versuch, das Gesehene einzuordnen, nicht mehr greift, dann wird es spannend. Deswegen bietet unser Inhaltsverzeichnis zwar eine Orientierungshilfe, aber letztlich stimmen die Kategorien nur auf den ersten Blick. Sie geben vielleicht einen Hinweis auf die Kunstform, aus der die Künstlerinnen und Künstler kommen oder wohin sie gerade streben – nicht unbedingt auf das, was wir erleben werden. Vielleicht finden Sie eigene Begriffe dafür oder Sie genießen einfach, dass uns die Worte ausgehen.

Was die Ruhrtriennale auszeichnet, sind die Wechselwirkungen zwischen Künstlern und Räumen. Sie ermöglichen uns starke künstlerische Erfahrungen und haben für mich oberste Priorität; wo sonst hat man die Freiheit, kompromisslos etwas entstehen zu lassen. So hat es auch mit den besonderen ästhetischen Herausforderungen des Landschaftsparks zu tun, wenn am Eröffnungswochenende die große Präsenz des Festivals in Duisburg unübersehbar ist. Musiktheater, das die Grenzen zu den anderen Künsten nicht mehr kennt: zum Theater, zum Tanz, aber auch zur Ästhetik der Installation und Performance, die uns in den letzten beiden Jahren besonders unerwartete Erfahrungen ermöglicht haben – darauf liegt der Schwerpunkt unseres Programms. Louis Andriessens erstes Musiktheaterwerk ist eine aufregende Ideen-Oper, die uns über das Verhältnis von Geist und Materie nachdenken lässt. Romeo Castellucci realisiert in der Gebläsehalle seine radikale Antwort auf Strawinskys Le Sacre du Printemps und setzt in der Jahrhunderthalle Neither von Morton Feldman in Szene. Und der junge Theatermacher Boris Nikitin lädt in die Maschinenhalle Zweckel zu einer Opernperformance; hier bieten uns drei außergewöhnliche Gesangssolisten einen raffinierten, biografischen Blick auf die Arbeit mit ihren Stimmen.

Zum Musiktheater – zum Tanz? zum Konzert? – gehört auch Surrogate Cities Ruhr, eine Choreografie von Mathilde Monnier zu einem Orchesterzyklus, den ich über die rasante und ambivalente Entwicklung von Urbanität in den Metropolen geschrieben habe. Die Vielstimmigkeit der Solisten, das maschinelle Klangmaterial und die architektonischen Strukturen der Musik sind auch Ausdruck für die polyzentrische Metropole Ruhr und inspirieren die französische Künstlerin zu einer großangelegten Bewegungsrecherche bei Menschen aller Altersstufen.

Bildende Künstler zeigen uns, welche Möglichkeitsräume der Film eröffnet – abseits dessen, was uns die Filmindustrie als Entertainment bietet. Und die Künstler haben dabei – und das ist nicht nur für die Region Ruhr ein vitales Thema – die Produktionsverhältnisse im 21. Jahrhundert im Blick: Mit River of Fundament inszeniert der amerikanische Künstler Matthew Barney ein bild- und klangstarkes Gesamtkunstwerk an den maroden Orten der amerikanischen Industriekultur. Und in den klaren Bildformaten, mit denen Harun Farocki uns in der ganzen Welt auf Arbeitsbedingungen schauen lässt, wird Eine Einstellung zur Arbeit sichtbar, die bei aller Entfremdung auf berührende Weise manchmal von großer persönlicher Liebe zum Detail erzählt. Boris Charmatz zeigt im Museum Folkwang eine filmische Inszenierung von Levée des conf lits, die er im vergangenen Sommer auf der Halde Haniel vom Hubschrauber aus gedreht hat.

Und wieder Raume: Nach den 12 Rooms im ersten und den Situation Rooms im zweiten Jahr entwickelt Gregor Schneider – einer der bedeutendsten Raumkünstler der Welt – eine Totlast im und um das Lehmbruck Museum in Duisburg. "Freue mich", schreibt Gregor Schneider, "das Museum samt Park umzugraben ... Ganz nah den vergessenen Gräbern tief in der Erde werden wir plötzlich wieder auf die Welt geworfen. Wir werden uns in den Armen liegen, wieder tief Luft holen. Was für ein toller Park. Wie schön ist unser Leben". Auch das wird ein ›Theater der Erfahrung‹.

No Education ist 2014 mit dem Hauptprogramm noch stärker verbunden. Nicht nur aufs Neue mit den Children’s Choice Awards, sondern auch durch die Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen bei Surrogate Cities Ruhr und in der freitagsküche. Zugleich diskutiert das ZEIT Forum Kultur Fragen der direkten künstlerischen Erfahrung – wie sie durch unser Programm und die No Education-Projekte aufgeworfen werden. Neben einer verblüffend direkten Arbeit von Tino Sehgal (Ohne Titel) (2000) wollen wir neue Arbeiten von Choreografen zeigen: von Anne Teresa De Keersmaeker, von Eszter Salamon, von Saburo Teshigawara, von La Ribot – die uns im vergangenen Jahr sechs Stunden lang zum Lachen brachte – und von Boris Charmatz, der sich auf das Thema des Essens und Verschlingens konzentriert. Nachdem Lemi Ponifasio mit Orffs Prometheus zum ersten Mal und eindrucksvoll eine Oper inszeniert hat, wird er sich mit I AM dem Theater nähern und mit Sprache arbeiten.

Mit dem Royal Concertgebouw Orchester aus Amsterdam – einem der besten Orchester der Welt – und dem Requiem von Ligeti werden wir in diesem Jahr ein umfangreiches, spannendes Konzertprogramm mit Musik des 20. Jahrhunderts beschließen: Kompositionen von Bernd Alois Zimmermann, Luc Ferrari, Olivier Messiaen, Edgard Varese, Maurice Ravel u. v. a. werden mit dem hr-Sinfonieorchester und dem ChorWerk Ruhr zu hören sein.

Nach Aufführungen bei Sonnenaufgang und regennassen Ausflügen auf die Halde muten wir Ihnen auch den Besuch eines entspannten Nachtkonzerts mit Musik von Morton Feldman zu. Und wir laden Sie zu einem Marathon aller sechs Cellosuiten von Bach mit Jean-Guihen Queyras im Rahmen unserer Konzerte im Maschinenhaus ein. Wie viele andere Formate, die wir für die Triennale etabliert haben – Festivalcampus, freitagsküche, Children’s Choice Awards, tumbletalks – wird auch diese Reihe im dritten Jahr meiner künstlerischen Leitung weitergeführt und mit Fred Frith, Edin Karamazov u. v. a. starke Klangerlebnisse bieten. In einem Konzert bei PACT Zollverein erzählt uns der Elektronik-Musiker und Produzent Matthew Herbert mit den gesampelten Klängen alter Klaviere die geisterhaften Geschichten ihrer Besitzer.

Delusion of the Fury, Situation Rooms, The Last Adventures, Vortex Temporum, Playing Cards, Marketplace 76, Lecture on Nothing, When the Mountain changed its clothing, Twin paradox, Sacré Sacre, Disabled Theater und andere Produktionen, die in den vergangenen beiden Jahren von uns initiiert oder ermöglicht wurden, sind mittlerweile quasi als ›Tourtriennale‹ überall auf der Welt zu sehen und künden damit immer auch von diesem herausragenden Festival und der künstlerischen Produktivität dieser Region.

Dass das Festival mit einem niederländischen Komponisten beginnt und mit einem Orchester aus Amsterdam endet, ist natürlich Zufall – aber gerne heiße ich damit auch meinen Nachfolger Johan Simons willkommen, der Sie im nächsten Jahr begrüßen wird. Viele festivalmachende Kollegen aus aller Welt beneiden uns nicht nur um die unverwechselbaren Räume und die Möglichkeiten, Kunst selbst produzieren zu können, sondern auch um Sie: unser Publikum. Sie hinterlassen bei allen großen Eindruck durch Ihre Neugierde, Offenheit, Ihren künstlerischen Wagemut und Ihre direkte Resonanz. Gäbe es einen internationalen Preis für das beste Publikum: Das Publikum der Ruhrtriennale hatte gute Aussichten auf Platz eins. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie dieses subjektiv gewählte Programm angenommen haben und weiter annehmen.

Mit herzlichem Gruß,

Heiner Goebbels

Künstlerischer Leiter der Ruhrtriennale 2012 – 2014