Editorial 2013

Heiner Goebbels

Ruhrtriennale als eine Ästhetik für drei Jahre bedeutet auch eine Kontinuität mit internationalen Künstlerinnen und Künstlern, mit deren Arbeiten wir Sie bekannt machen möchten. Wir wollen ihre künstlerische Forschung mitverfolgen und Sie an dieser Entwicklung teilhaben lassen. So finden sich neben vielen neuen Namen auch in diesem Jahr wieder Künstler wie Boris Charmatz, Romeo Castellucci, Anne Teresa De Keersmaeker, Robert Wilson oder Tarek Atoui, die uns zu neuen Produktionen ihrer breiten künstlerischen Praxis einladen.

Auch wenn unsere offizielle Festivaljury der Children’s Choice Awards im ersten Jahr dieser Triennale meiner Lieblingsband den Preis in der Kategorie Die größte Qual für die Ohren verliehen hat, wird es die Jury wieder geben. Unser No Education-Programm dokumentiert das unbedingte Vertrauen, dass nicht nur unserem erwachsenen Publikum, sondern auch den von uns eingeladenen Kindern und Jugendlichen eine eigene, unvoreingenommene Erfahrung mit Kunst möglich ist. Wir glauben an die Erfahrung, dass die Welt auch ganz anders sein könnte. Mit den Jurymitgliedern des ersten Jahres, die wohl mehr Kunst gesehen haben als die meisten Erwachsenen, planen wir für 2013 neue Kunstprojekte.

Wieder zeigen wir zwei Opernentwürfe, die jede auf ihre Weise das Genre herausfordern und trotz ihrer Einzigartigkeit seit ihrer Entstehung selten inszeniert worden sind: zur Eröffnung Delusion of the Fury, das Meisterwerk des unangepassten amerikanischen Komponisten Harry Partch. Für die musikalische Umsetzung seines eigenen Tonsystems hat Partch eine Vielzahl neuer Instrumente entwickelt, die wir gemeinsam mit dem Ensemble musikFabrik haben nachbauen lassen. Damit kann diese Produktion auch zu einem wegweisenden Auftakt werden, um in den nächsten Jahren mit weiteren Aufführungen seine Musik voller Humor und poetischer Leichtigkeit in Europa bekannt zu machen. Als zweite große Oper produzieren wir Das Mädchen mit den Schwefelhölzern von Helmut Lachenmann, dem Meister einer ›musique concrete instrumentale‹, der Andersens Märchen in ein einzigartiges Klangerlebnis übersetzt hat. Der Regisseur und Lichtkünstler Robert Wilson wird es in einem besonderen Klang- und Raumkonzept in Szene setzen.

Unter einem erweiterten Begriff von Musiktheater kann man auch die neue, bilderreiche Arbeit des britischen Autors und Theatermachers Tim Etchells fassen, die er mit Forced Entertainment und dem libanesischen Klangkünstler Tarek Atoui entwickelt; und der Begriff gilt ebenso für die musikalischen Choreografien von Boris Charmatz und die Uraufführung von Anne Teresa De Keersmaeker mit der Musik des französischen Spektralisten Gérard Grisey. Auch die performative Installation Stifters Dinge ist Musiktheater im Wortsinn. Der ästhetischen Breite zeitgenössischer Musik, die in unseren beiden Opernproduktionen zum Ausdruck kommt, entspricht unser Konzertprogramm mit Kompositionen von Witold Lutosławski bis Arvo Pärt, von Gavin Bryars bis Jonathan Harvey und György Kurtág.

Ein Schwerpunkt unseres Programms 2013 ist das Verhältnis von Ton und bewegtem Bild: Der politische BBC-Dokumentarist Adam Curtis sucht zusammen mit Massive Attacknach Bildern für die Unsichtbarkeit politischer Machtverhältnisse. ACTUAL REMIX unterlegen dem Stummfilmklassiker Metropolis von Fritz Lang mit Klängen von Iannis Xenakis und Ritchie Hawtin einen aktuellen Soundtrack. So sind es sehr unterschiedliche Ansätze, die das Verhältnis von Ton und Bild, von Hören und Sehen auf jeweils andere Weise reflektieren: mal illustrativ, mal kontrastierend, mal unabhängig. Manchmal arbeitet das Bild dem Ton zu und dreht damit die Hierarchie eines meist prioritären Bildes radikal um – wie bei den Animationsfilmern, den Quay Brothers, die der Musik von Stockhausen und Lutosławski eine eigene, geheimnisvolle Bildwelt gegenüberstellen. All diese Ciné-Concerts bestehen auf der Koexistenz zweier Medien: Musik und Film.

Auch in weiteren installativen und performativen Produktionen ist das Verhältnis von Ton und Bild mal auf unheimliche Weise synchron wie bei Ryoji Ikeda in der Kraftzentrale, mal durchdringt es sich gegenseitig wie in der neuen Arbeit von Douglas Gordon, Silence, Exile, Deceit, die er eigens für die Ruhrtriennale in der Mischanlage filmt und inszeniert. Mitunter schlüpfen die Zuschauer selbst in die Rolle der Protagonisten – wie in den Situation Rooms von Rimini Protokoll oder werden zu Performern im bewegten Bild von William Forsythes City of Abstracts. Video und Film bleiben in unserem Programm nie zweidimensional, sondern werden zu lebendigen Partnern der Wahrnehmung – auch bei FC Bergman im Salzlager und the fault lines bei PACT Zollverein.

Auch in diesem Jahr setzen wir die Aufführungen an den Rändern des Pop fort: mit Massive Attack V Adam Curtis, die ein neues, experimentelles Konzertformat vorbereiten, mit dem DJ-Material bei Metropolis und den digitalen Klangextremen von Ryoji Ikeda. Und vielleicht steht die rhythmische Ästhetik der 1960er Jahre im Meisterwerk Delusion of the Fury ebenso an den Rändern des Pop wie Gavin Bryars, dessen Album The Sinking of the Titanic von Brian Eno produziert wurde: ein Erlebnis meditativen Hörens in einer anderen Zeitwahrnehmung.

Wahrnehmung und Erfahrung sind etwas sehr persönliches, stellen sich für jede und jeden von uns anders dar, und auch im Theater ist man in den Momenten, die am stärksten berühren, alleine. Vielleicht haben wir aus diesem Grunde die selbstgewählten Begegnungen in unserem Programm erweitert, in denen man entscheiden kann, wann man einen Raum betritt, wie lange man darin verweilen mag, wie schnell man ihn verlässt und ob man wiederkommt. Die begehbaren Installationen, die das ermöglichen, finden Sie in der Kraftzentrale (test pattern, Stifters Dinge), bei PACT Zollverein (Laughing Hole), im Museum Folkwang (Nowhere and Everywhere) und wie im letzten Jahr in der Mischanlage (Douglas Gordon).

Wir wurden im vergangenen Jahr darauf angesprochen, dass es in den Aufführungen kaum Pausen gab. Das hat mit der Intensität zu tun, mit der zeitgenössische Künstler uns in komplexe Wahrnehmungsweisen eintauchen lassen, die nicht mehr der klassischen Einteilung in Akte entsprechen und an die man nach einer Pause nicht so einfach wieder anknüpfen kann. Ästhetische Erfahrung ist (nach dem Philosophen Dieter Henrich) kein »passives Aufnehmen«, sondern »aktive Aufmerksamkeit, in der die Unmittelbarkeit, mit der wir die Welt uns aneignen, unterbrochen wird«. Diese Unterbrechung des Alltags ist die eigentliche Pause. Lassen Sie uns nach den Aufführungen wieder miteinander sprechen – wo auch immer: auf der Agora/Arena von Mischa Kuball, vor den Zeichnungen Dan Perjovschis, bei den Tischgesprächen der freitagsküche und in den sonntäglichen tumbletalks mit den Künstlern des Festivals.

Gegenüber Politik auf der Bühne bin ich skeptisch. Mich interessiert ein Theater, das uns nicht belehren und einschüchtern, das uns nichts ›verkaufen‹ will, sondern das zu einer Erfahrung mit allen Sinnen einlädt. Vielleicht kann es uns dann, wenn die Sprache zurücktritt, sogar mit den Kräfteverhältnissen konfrontieren, die sich der Erkennbarkeit, Verfügbarkeit und Machbarkeit entziehen; Kräfteverhältnisse, die nicht greifbar und vor allem nicht personifizierbar sind. Das trifft für die Machtverhältnisse ebenso zu wie für die ökologischen Herausforderungen der Zukunft oder die ökonomischen Prozesse, die sich nicht voraussagen lassen. Auch damit hat unser Programm 2013 zu tun.

Heiner Goebbels
Künstlerischer Leiter der Ruhrtriennale 2012 – 2014