Editorial 2012

Heiner Goebbels

Manchmal spreche ich von Kunst als Erfahrung, denn mich interessiert Theater nicht als Instrument der Mitteilung. Darauf wird es allzu oft reduziert – schon allein, weil es auf Sprache basiert. »Everything which is not a story could be a play« / »Alles, was keine Geschichte ist, kann Theater sein« – heißt es schon bei Gertrude Stein. Theater kann eben so viel mehr sein: eine Vielfalt von Eindrücken aus Bewegungen, Klängen, Worten, Räumen, Körpern, Licht und Farben. Und mit diesem ›mehr‹ kann das Theater uns vielleicht gerade da berühren, wofür uns (noch) die Worte fehlen. Das heißt, Kunst als Erfahrung steht auch für die Offenheit, das Geschehen auf der Bühne nicht immer unbedingt verstehen zu müssen, einer fremden Sprache oder einer uns unbekannten Musik zuzuhören, einem Bild zuzuschauen, für das wir keinen Begriff haben.

Die Räume der Industriekultur sind in ihrer Materialität die schärfsten Kritiker, wenn man ›nur so tut als ob. Fehlt der Rahmen einer Guckkastenbühne, einer Blackbox oder eines goldenen Portals, merkt man selbst noch in der letzten Reihe, ob auf der Bühne nur etwas vorgegeben wird. Mich interessiert Theater als eigene Realität, die eben nicht so tut, als würde sie nur auf eine andere verweisen. Gerade das gibt dem Zuschauer die Freiheit, das Theater mit der eigenen Realität und den eigenen Erfahrungen abzugleichen. Das können und wollen die Künstlerinnen und Künstler Ihnen nicht abnehmen. Nähe und Ferne zwischen Theater und Realität sind nicht eine Frage der Interpretation des Regisseurs, sondern selbst zu entdecken – und wir halten die Zuschauer für weit cleverer als das kleine Team, das sich da vorne etwas ausgedacht hat.

In unserem medialen Alltag bekommen wir alles zubereitet und totalitär vorgesetzt. Fernsehmoderatoren starren uns an, Entertainer schreien uns an. Die meisten Filme sind exzellent gemachte Unterhaltungsmaschinen, die uns fesseln – aber nicht befreien. Die Möglichkeiten für unser individuelles Entdecken sind kleiner geworden, die Räume für unsere Vorstellungskraft enger. Hier kann die Kunst im Theater zu einem Schutzraum, zu einem Museum der Wahrnehmung werden, in dem all das wieder möglich ist.

Der Name Ruhrtriennale leuchtet leichter ein, wenn man jede Triennale als ein Statement für eine ›Ästhetik auf drei Jahre‹ ansieht. Zum Beispiel wird es in den nächsten drei Jahren kein Thema geben. Themen schränken aus meiner Sicht nicht nur den künstlerischen Leiter ein, sondern auch vehement den Auftrag an die Künstlerinnen und Künstler – und nicht zuletzt den Blick des Publikums. Gute Kunstwerke – das ist in der darstellenden Kunst nicht anders als in der bildenden Kunst – haben viele Geschichten und geben nicht alle ihre Geheimnisse frei.

Der Tanz ist vermutlich die am wenigsten institutionalisierte Kunstform. Und es ist wohl kein Zufall, dass es ausgerechnet die Choreografinnen und Choreografen waren, die in den letzten 20 Jahren die Möglichkeiten der darstellenden Künste erweitert und uns zum Nachdenken gebracht haben. Nicht nur zum Nachdenken über Bewegung, sondern auch zum Nachdenken über das Verhältnis von Musik und Tanz, von Klang und Bild, von Hören und Sehen. Zum Nachdenken über unsere Körper und die Körper derer, die anders sind. Deswegen haben wir so großartige Choreografen eingeladen wie Boris Charmatz, Tino Sehgal, Anne Teresa De Keersmaeker, Jérôme Bel, Lemi Ponifasio, Mathilde Monnier, Laurent Chétouane – auch weil sie längst schon etwas anderes machen als Tanz: Kunst mit allen Mitteln.

Der Raum kann genauso wichtig sein wie das Werk. Vor Sonnenaufgang, früh morgens, zeigen wir in der Jahrhunderthalle eine zauberhafte Melange aus alter – aber sehr aktuell klingender – Chormusik und den im Dunkeln zunächst kaum wahrnehmbaren Körpern der Tänzerinnen und Tänzer von ROSAS. Ich verspreche Ihnen, so etwas haben Sie vermutlich noch nicht erlebt. Oder Sie hören klassische Musik mit weltberühmten Solisten nicht in einem Konzertsaal, sondern in dem ganz intimen, fast privaten Rahmen eines Maschinenhauses auf der Zeche Carl – und man kommt dabei der Virtuosität der Musiker so nah wie den Menschen in der Live Art-Ausstellung 12 Rooms.

No Education Kinder sind die Experten unserer Festivaljury, sind die enfants‹ bei Boris Charmatz, die Stars in When the mountain changed its clothing. Und zugleich sind sie die Protagonisten unserer No Education-Projekte: als visionäre Bauherren, als lebende Skulpturen, als Performer – weil Kinder uns Dinge zeigen können, die wir verlernt haben. In unserem Festivalcampus auf dem Gelände der Jahrhunderthalle Bochum tauschen sich Studierende und Dozenten aus ganz Europa mit den Künstlerinnen und Künstlern der Ruhrtriennale aus. Sie nehmen das Festival als lebendiges Laboratorium und diskutieren das Gesehene und Gehörte untereinander, mit uns – und, wenn Sie wollen, auch mit Ihnen.

International Festival of the Arts haben wir als Untertitel im Übrigen nicht erfunden – aber wir wollen ihn stärker machen: fremde Gäste willkommen heißen und Künstlerinnen und Künstler, die weltweit Bedeutung haben und mit ihren Arbeiten Aufsehen erregen, zum ersten Mal zur Ruhrtriennale einladen. Die Orte der ehemaligen Industrie werden zu Produktionsstätten für zeitgenössische Kunst: Theater, Tanz, Musik und Performance ›made in Ruhr‹ – und weltweit auf tour.

Regional / International ist bei uns keine Alternative. Viele der Künstler, die wir zur Ruhrtriennale eingeladen haben, bringen Sie auf die Bühne: Experten, Young Professionals, Laien und Amateure aus dem Ruhrgebiet: als ›Assistenten‹ in Europeras 1&2 von John Cage, als Darsteller in der Prometheus-Inszenierung von Lemi Ponifasio, als Folk. bei Romeo Castellucci und in dem off-off Musical des Nature Theater of Oklahoma, als Performer in
12 Rooms im Museum Folkwang oder als Schlagzeuger bei Boredoms.

Ein Festival / zwei Opern – John Cage und Carl Orff – gegensätzlicher geht es vermutlich kaum: für uns ist das auch als ein Statement für musikalische Offenheit und Breite zu sehen. Was beide verbindet, ist aber nicht nur die Tatsache, dass Europeras 1&2 und Prometheus im Repertoire der Opernhäuser der Welt nicht vorkommen, sondern vor allem, dass diese beiden Werke auf unterschiedliche Weise radikal mit der Tradition brechen und damit eine Perspektive für die Zukunft des Musiktheaters anbieten. Beide erweitern die Oper auf ihre Weise: überraschen mit einer völlig unhierarchischen, dezentralen Struktur (bei Cage) oder lenken die Aufmerksamkeit weg vom Gesang hin auf die Musikalität der gesprochenen Sprache (bei Orff).

Und ›irgendwo‹ in der ästhetischen Vielfalt zwischen Cage und Orff präsentieren wir auch Charles Ives, die Kunst der Improvisation und die Ränder des Pop – da, wo sie zur Kunst werden: die rituelle Power der Boredoms und die Sounds von alva noto und Ryuichi Sakamoto.

Current heißt Energie / Strömung / im Fluss zu sein. Sechs Wochen lang können sie diese Ströme täglich auf den kohle-schwarzen Mauern der Mischanlage der Kokerei Zollverein sehen. Wie im Bauch einer Pyramide, die auf dem Kopf steht. Und dabei gegenwärtige Menschenströme entdecken, mit denen die israelische Künstlerin Michal Rovner die unmenschliche Architektur der Mischanlage in einen sehr lebendigen Sog versetzt. Ist das noch eine Videoinstallation, bildende Kunst in Bewegung oder projiziertes Theater? Die Trennungen zwischen der darstellenden und der zeitgenössischen bildenden Kunst sind ohnehin immer weniger zu halten; das ist bei keiner Ausstellung so deutlich wie bei 12 Rooms, in der bildende Künstler von Choreografen und Regisseuren nicht mehr zu unterscheiden sind. Ihre Menschenbilder werden auch unseren Blick auf die Bühne verändern.

Heiner Goebbels
Künstlerischer Leiter der Ruhrtriennale 2012 - 2014