RuhrTriennale
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Editorial 2006 Der Mensch des Barock

Er betritt einen Raum, in dem die alten Beziehungen nicht mehr tragen. Kopernikus hat die Astronomie beflügelt, Galilei einen Donnerkeil zwischen Glauben und Wissenschaft getrieben, Gryphius dichtet für ein Europa des Absurden: »Ihr irrt, indem ihr lebt; die ganz verschränkte Bahn / Lässt keinen richtig gehn ... ihr irrt ...«  Und das ist erst der Anfang. Hamlets schießen wie Pilze aus dem Boden. Ob sie ahnen, dass es sich um eine Krise größeren Ausmaßes handelt?

Montaigne gerät in die falsche historische Stunde. Das Ich, das in seinen Texten spricht, ist schon ein zweistelliges, eine Komposition aus dem Selbst und Gott. Seine »Essais« bereiten einen Epochenwechsel vor. Schreiben ist hier kein Dank- oder Reueopfer mehr, sondern ein Versuch des Autors, sein Ich-Zentrum zu festigen. Zum Zuge kommt der Mensch, seine geistige Freiheit, sein Begehren nach Macht, nach Anerkennung und Glück. Das zerknirschte Sündenbewusstsein des Ich beginnt eigentlich schon zu verblassen. Doch wo Krieg ist, und das über Jahrzehnte, und der Mensch Landesgrenzen und Sternenheere verschiebt, da sind Angst und Unrast keine unwahrscheinlichen Gefühle. Es kommt die hohe Zeit für Zufluchtsorte, Hoffnungsformeln und religiöse Heils- und Gnadenlehren. Jesuiten und Jansenisten entwickeln rigorose Regelwerke. Es entstehen stapelweise Gebrauchsanleitungen zum Gnadenerwerb.

Trauer, Tiefsinn und Melancholie ­ das sind die Barockstimmungen, in denen die Künstler, Philosophen und Politiker des siebzehnten Jahrhunderts an neuen Formen modeln. Trauerspiele, liturgische Kompositionen, erotische Komödien, barocke Sonette und Atlantis-Variationen (Böhmen liegt am Meer!) sind ihre Erbstücke. Alles Entwürfe, in denen sich die Paradoxien unserer Gegenwart spiegeln. Ob laut oder leise, ob tragisch oder komisch ­ was immer spricht, ist die drastische Angst vor dem Verlust aller Dinge: seiner Selbst, der Liebe und des Besitzes.

Der flämische Maler und Diplomat Peter Paul Rubens hat zu alldem einen geraden, scharfen Kommentar gegeben, gewissermaßen im Fußnotenformat am unteren Rand seines großen Tableaus »Die Schrecken des Krieges«. In diesem Titelbild zum Zustand Europas während des Dreißigjährigen Krieges ist Mars der Protagonist, umgeben von Amoretten, Liebesgöttern, einer Furie mit brennender Fackel und Menschen aus dem Volk, die vor seinem blutigen Schwert in Deckung gehen. Inmitten von Effekten, Chaos und Fülle kauert rücklings eine Frau. Offenbar ist sie gestürzt. Ihr Arm umklammert schützend eine zerbrochene Laute. Der Kopf ist über die Schulter gewendet, ihre Augen starren auf den Furor des Krieges, der gerade ein aufgeschlagenes Buch mit Füßen tritt. Ihr stabiler Blick auf die drohende Gewalt dieser Bewegung muss unser Blick sein. Die Kunst wendet ihr Antlitz den Katastrophen zu. Und das ist bloß der Anfang.