Statements von Christoph Marthaler, Stefanie Carp und Künstler*innen des Festivals

Intendantin Stefanie Carp, Artiste associé Christoph Marthaler und Künstler*innen des Festivals mit Statements und Videobotschaften zu den aktuellen Entwicklungen um das Coronavirus.

Stefanie Carp, Intendantin der Ruhrtriennale

Christoph Marthaler, Artiste associé

Weitere Statements


Stefanie Carp, Intendantin der Ruhrtriennale

Für die drei Ausgaben der Ruhrtriennale hatte ich den Begriff „Zwischenzeit“ als thematische Überschrift gewählt. Er sollte eine Pause imaginieren, ein Innehalten im Bereich der Kunst, um Neues zu denken, es vorstellbar zu machen, die Grundlagen unserer Lebensweise anders zu justieren und auf Veränderung neugierig zu sein. 

Nun ist eine Zwischenzeit, ein Anhalten auf makabre und beängstigende Weise real geworden. In dem erzwungenen Betriebstopp ganzer Gesellschaften wird uns durch alle Ängste, unterschiedlichen Nachrichten und Szenarien eines bewusst: dass es unsere Lebensweise ist, die die Krise erzeugt hat und dass wir, wenn sie irgendwann einmal vorbei sein wird, nicht weiter machen können wie vorher. Wir werden in einer anderen Gesellschaft leben mit anderen Erfahrungen. 

Die Fragen danach, was Menschen gemeinsam haben, sind plötzlich deutlich und dringlich: Wie werden diejenigen durch die Pandemie kommen, die in sehr anderen Umständen leben als wir? Alle jene von den Wohlhabenden Ausgegrenzten und Eingesperrten, die in Flüchtlingslagern, Townships, Favelas und in anderen Absperrungen leben? Von ihnen ist in der öffentlichen Wahrnehmung erschreckend wenig die Rede. Wird es uns gelingen, solidarischere Gesellschaften und einen solidarischeren Planeten zu schaffen? Oder werden wirtschaftliche und politische Akteur*innen die Krise benutzen, um Geld und Macht noch enger zu verbinden und demokratische Institutionen auszuhebeln? 

In seiner Festivalrede Reflections on Planetary Living für die Ruhrtriennale 2020 will sich der Historiker und Philosoph Achille Mbembe mit dem Reparieren und Teilen unseres Planeten beschäftigen. Der Sinn seines Vortrages über „planetarisches Leben“ könnte uns nie brisanter erscheinen als eben jetzt.

In den letzten Wochen war ich viel mit den Künstler*innen der Ruhrtriennale in Kontakt. Es ist unglaublich ermutigend, mit welcher enormen Kreativität und Sensibilität jede*r von ihnen die Erfahrungen, die wir derzeit machen, in ihre Arbeiten hineinnehmen. Es ist auch ermutigend, wie alle Künstler*innen schon jetzt nach möglichen, anderen Wegen des Produzierens suchen und dieselben erfinden.

Nicht wenige der Arbeiten, die für die Ruhrtriennale 2020 entstehen, sind in ihren inhaltlichen Vorhaben und Fragestellungen den Erfahrungen, die wir jetzt machen, erschreckend nahe.

Meg Stuart nennt ihre neue choreografische Kreation Cascade und beschäftigt sich mit dem Ende des Humanen. In den ersten Arbeitstagen wurden die Vorgänge Fallen, Stürzen, Abstürzen probiert. Meg Stuart beginnt nun in der erzwungenen Pause mit anderen Choreograf*innen und Tänzer*innen darüber zu diskutieren, was soziale Distanz für den Tanz bedeutet.

Brigitta Muntendorf und Stephanie Thiersch reflektieren in Archipel – einer Arbeit zwischen Konzert-Installation und Choreografie – neue Formen des Zusammenseins, der Kommunikation, der gemeinsamen Lebens- und Umgangsweise, und denken über andere Varianten der Präsentation nach. Christoph Marthaler widmet sich in der Musiktheater-Kreation Die Verschollenen (für grosses Orchester) dem Verlorensein, dem Verlust und dem Neuen, das daraus entstehen kann.

Serge Aimé Coulibalys neue Arbeit Wakatt beschäftigt sich mit der Angst und dem was Angst in Individuen und Gesellschaften anrichtet.

Candice Breitz beginnt die Arbeit an einer neuen Video-Installation über eine in der Zukunft ausgestorbene soziale Spezies. Auch William Kentridges Frage nach dem Schicksal erscheint, auch wenn Waiting for the Sibyl schon letzten Sommer in Rom Premiere hatte, auf unheimliche Weise aktuell.

Zurzeit sind alle Proben unterbrochen bzw. die Probenanfänge, sowie Bühnenbildbauten aufgeschoben. Aber alle sind bereit mit allen Bedingungen produktiv umzugehen.

Viele Kolleg*innen der Ruhrtriennale arbeiten so weit möglich im Homeoffice und via Videokonferenzen an den Vorbereitungen der Triennale.

Für diese unabweisliche und produktive Aufrechterhaltung unserer Arbeit, möchte ich mich bei allen Mitarbeiter*innen und Kolleg*innen der Ruhrtriennale bedanken. Ich möchte mich bei allen Künstler*innen und künstlerischen Partner*innen dieses Programmes für ihr Vertrauen und ihre kreative Bereitschaft und Offenheit bedanken.

Wahrscheinlich wird Ende des Sommers unser Verhältnis zur Welt, zu anderen und zu uns selber ein anderes sein. Wir machen eine Erfahrung, die wir noch nicht gekannt haben. Der Reflektionsraum der Kunst und das gemeinsame Rezipieren und Erleben in der performativen Kunst wird dann sehr wichtig für uns sein. Die spezielle Erkundung und Erspürung das sensible Reagieren und Wissen von Kunst wird eine große Relevanz haben, um uns wieder als Teilnehmende in sozialer Auseinandersetzung zu empfinden.

Stefanie Carp, 31.3.2020

 

Christoph Marthaler, Artiste associé

In diesen Tagen und Wochen kommt es einem so vor, als hätten sich alle inneren und äußeren Koordinaten auf unkontrollierbare Weise verschoben. Als wäre vieles plötzlich unerreichbar geworden und man selber wie in Beton gegossen. Und natürlich kann man den Konjunktiv streichen, denn dies alles ist sehr real. Auf was kann man jetzt zurückgreifen? Gibt es eine Blaupause für diese Situation? Unendlich viele Stimmen melden sich öffentlich zu Wort. Doch da es auf die meisten Fragen, die uns derzeit umtreiben, keine wirklich produktiven Antworten gibt (und geben kann), entsteht in mir das umso stärkere Bedürfnis, auf meine mir eigene Weise am Nachdenken über diese schwer zu fassende Gegenwart und mögliche Zukunftsszenarien mitzuwirken.

Für die kommende Ruhrtriennale bereite ich gemeinsam mit vielen anderen Künstler*innen seit Monaten ein Projekt mit dem Titel Die Verschollenen vor. Es ist der Entwurf für ein Musiktheater, das über Zustände großer Verlorenheit, über Gefahren des Auseinanderdriftens und zunehmende Unsichtbarkeiten erzählt. Gleichzeitig jedoch auch darüber, welche Bedeutung dem Künstlerischen (hier: der Musik und dem Theater!) zufällt, wenn alle anderen Parameter ins Rutschen geraten. Ist es nicht genau dieses Schwanken zwischen tiefer Unsicherheit und leiser Zuversicht, dem wir uns alle gerade ausgesetzt sehen? Nicht zuletzt deshalb wünsche ich mir sehr, dass diese und alle anderen Produktionen, die derzeit für die Ruhrtriennale vorbereitet werden, stattfinden können. Zum geplanten Zeitpunkt oder etwas später. In der geplanten Form oder in einer etwas anderen.

Es könnte sein, dass wir reagieren müssen: auf kürzere Probenzeiträume, auf andere Raumsituationen, auf bestimmte Zuschauerkonstellationen aus Sicherheitsgründen. Wenn das so sein sollte, wird uns eine Anpassung gelingen. Improvisation und flexibles Reagieren sind ja wesentliche (und ziemlich interessante) Bestandteile unserer Berufe. Das Wichtigste ist, dass wir alle Möglichkeiten durchdenken, um die kommende Ausgabe der Ruhrtiennale realisieren zu können. Genau jetzt ist der Reflexionsraum der Kunst unverzichtbar. Mehr noch: er ist absolut wesentlich für eine Gesellschaft in Irritation. Wir alle, die beteiligten Künstler*innen, das Publikum, die Medien sowie die Entscheidungsträger*innen aus der Politik sollten diese Herausforderung unbedingt annehmen und gemeinsam daran arbeiten, eine Lösung zu finden, damit dieses außergewöhnliche Kulturereignis stattfinden kann.

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